Life on the Surface

Essay
13.02.2018

Life on the Surface

Image: Wikimedia Commons

Wie können wir aus der Masse an heute verfügbaren Informationen noch Bedeutung zusammensetzen? Wie können Daten verlässlich in so etwas wie Wahrheit umgesetzt werden, wenn es schon als Herkulesarbeit erscheint, Fehlinformationen zu erkennen? Je nach Überzeugung und Agenda bedeutet Wahrheit mittlerweile ganz Unterschiedliches – für einige ist sie das, was an der Oberfläche bereitliegt, während sie für andere tief unter Zahlen und Meinungen begraben scheint und mühsam hervorgeholt werden muss. In seinem Essay beschreibt Faisal Devji diesen Umstand als „Begehren und zugleich Ernüchterung in Bezug auf das Leben an der Oberfläche“. Devji argumentiert, dass neue und stärkere Arten von Bedeutung produziert werden könnten, wenn die Oberfläche von einem vermeintlichen Ort der Sichtbarkeit in „ein Feld des Spiels und der Illusion“ umgewandelt würde. Durch Esoterik und Skepsis, so schreibt er, könnte das Mysterium der Bedeutung wiederhergestellt werden – anstelle der Fetischisierung von entweder Sichtbarkeit oder Enthüllung.

Daten und Informationen, wie sie in den neuen Medien unaufhörlich und unverzüglich verfügbar gemacht werden, bedrohen mittlerweile die Struktur von Bedeutung. Letztere wurde traditionell als die Freilegung einer verborgenen Wahrheit verstanden – verborgen unter der unzuverlässigen Wahrnehmung und der oberflächlichen Meinung. Nun scheint sie als Produkt der Entdeckung von einer Lawine aus Informationen begraben worden zu sein. Der schiere Umfang der breit verfügbaren digitalen Daten zerstört auch Ansprüche verbindlichen Wissens, was sich sowohl in der Verbreitung von „Fake News“ als auch im Misstrauen gegenüber „Mainstream-Medien“ zeigt.

Dieses Phänomen ist nicht einfach eine Folge technologischer Entwicklungen, sondern geht aus einer langen Geschichte demokratischer Auseinandersetzung und Praxis hervor. Das Ideal der Demokratie begründet die Befreiung von Autorität eben in der Fähigkeit, Bilder und Narrative ungehindert zu produzieren und online weiterzugeben. Der Mangel an Verantwortlichkeit der anonymen Online-Übertragung verstößt selbstverständlich gegen jedes demokratische Ideal der wechselseitigen Verantwortung. Doch die Anonymität und sogar Gleichgültigkeit dieser Übertragung gegenüber jeglicher Wahrheit passt recht gut zur Idee der geheimen Wahl und zu der Erwartung, dass Bürger_innen für ihre privaten Interessen abstimmen.

Datendumps, wie Wikileaks sie produziert, bringen uns nicht die Art von Wahrheit, die uns von der altmodischen Bedeutung versprochen wurde. Besonders in Veröffentlichungen wie den Panama Papers wird deutlich, dass sie nur vorhersehbare Informationen aufdecken, deren primärer Nutzen ihre rechtliche Beweiskraft ist. Deswegen hat das öffentliche Interesse an scheinbar banalen Enthüllungen so rapide abgenommen; Informationen, die dann von traditionelleren „Hintergrundgeschichten“ ergänzt werden, in denen Bedeutung wieder wirksam wird und das Interesse auf dem liegt, was verborgen, uneindeutig und unentscheidbar bleibt. Das beste Beispiel eines solch lang anhaltenden Dramas bietet die Debatte um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange.

Inwiefern diese überbordenden und leicht zugänglichen Informationen die Struktur von Bedeutung verändert haben, zeigt sich auch in der Popularität von Verschwörungstheorien. Solche Theorien sind nicht länger an die Unkenntnis oder Ermangelung von Information geknüpft; vielmehr hängt ihr Funktionieren nun gerade von der Fülle an Informationen ab. Diese Situation offenbart das Hinschwinden autoritativen Wissens inmitten der „demokratischen“ Informationsfülle – ebenso wie die Angst, welche die Versuche antreibt, aus den Tiefen der Daten Bedeutung auszugraben. Es handelt sich um eine unmögliche Wahrheitssuche, in der jedes bisschen Information von einem anderen übertrumpft wird, dem mehr Wahrheitsgehalt zugeschrieben wird.

 

Posthume Privatsphäre

Wie dicht Information auch scheinen mag – solange sie die Wichtigkeit des Unsichtbaren und Unbekannten in der Herstellung von Wahrheit ignoriert, kann sie nur eine Oberflächenexistenz führen. Information selbst repräsentiert mittlerweile den demokratischen Wert der Transparenz. Er wird als eine Form universeller Verfügbarkeit verstanden – im Gegensatz zum spezialisierten oder verborgenen Wissen von Eliten. Die Idee der Gleichheit wurde einst durch die liberale Freiheit des Privatlebens abgegrenzt. Dieses diente wiederum als Hort der Bedeutung, insofern es die ungleichen Interessen und Leidenschaften hinter dem Gleichheitsprinzip öffentlichen Handelns und Argumentierens verschleierte.

Das Privatleben – immer potenziell verschwörerisch oder gar verboten – wird heute nicht nur von Überwachung bedroht, wie in totalitären Staaten, sondern auch vom Wunsch nach Selbstdarstellung, der von alten wie neuen Medien befördert wird – darunter Reality-TV, Webcams und soziale Netzwerke. Die Überwachung seit dem 11. September errichtet sogar gewissermaßen eine Form der Privatsphäre auf Staatsebene, indem persönliche Informationen über Bürger_innen der Vergänglichkeit des öffentlichen Umlaufs entzogen und geheim gespeichert werden. Gerade weil Bedeutung im liberalen Sinne als Produkt des Privatlebens verstanden wird, funktioniert die durch Überwachung aufgedeckte Bedeutung auf gleiche Weise wie jene, die in den sozialen Medien enthüllt wird. In beiden Fällen wird irgendeine Wahrheit an die Oberfläche gebracht und die Absicht hinter ihrer Aufdeckung transparent gemacht, indem entweder eine kriminelle Absicht oder ein Akt des Exhibitionismus eingestanden wird. Man könnte sogar sagen, dass solche Bedeutungsenthüllungen die kontinuierliche Neuerfindung eines Privatlebens erfordern, das ebenso wiederholt zerstört werden muss, um ein Leben an der Oberfläche abzusichern und zu genießen.

Doch alles, was wir über die neue Generation der Terroristen von al-Qaida und ISIS wissen – ebenso wie über die von ihnen nachgeahmten Social-Media-Stars in ihrem endlosen Streben nach globaler Sichtbarkeit – sagt uns, dass es vielleicht gar keine geheime oder private Welt gibt, die vor der Militanz existiert, aus der heraus sie handeln. Radikalisierung und Exhibitionismus geschehen an der Oberfläche, in der Ebbe und Flut öffentlich verfügbarer Daten, Bilder und Erzählungen. Radikalisierung kann überhaupt so schnell passieren, weil es nicht länger der Indoktrination an abgelegenen Orten bedarf, wie es bei Kulten und ideologischen Sektierern der Fall war. Stattdessen leitet sie die Energie und auch die Zerbrechlichkeit aus der Oberfläche ab, aus Memen und vorgefertigten Argumenten. Sie wird nicht von der räumlichen Logik des Privaten und Öffentlichen bestimmt, sondern von einer zeitlichen Logik der Taten und Untätigkeit.

Es liegt ein gewisses Vergnügen in dem Spiel der Verschleierung und Enthüllung, das Regierungen, Presse und gewöhnliche Leute im Umgang mit Terrorismus, sozialen Medien und anderen Formen der Öffentlichkeit spielen. In diesen Formen wird rückwirkend eine private Wahrheit – ob persönlich oder religiös – platziert, um die Struktur von Bedeutung abzusichern, die auf ihrer Offenlegung basiert. Das scheint auch hinsichtlich Verschwörungstheorien wie der Verleugnung des Klimawandels oder der Anzweiflung von Barack Obamas US-amerikanischem Geburtsort und damit Präsidentschaftsberechtigung der Fall zu sein. Diese Verschwörungen sind wiederholt von Obamas Nachfolger verbreitet worden, dessen Persona sich durch die Abwesenheit jeglicher Tiefe auszeichnet.

Doch US-Präsident Trumps Anspruch, an der Oberfläche der Dinge zu leben, zeigt sich nicht nur in der geflissentlichen Oberflächlichkeit oder einfachen Vertrautheit seiner stereotypen und medial gesättigten Ansichten. Die von ihm gebotenen Verschwörungen können den Status der Wahrheit nur erlangen, indem sie sich wieder und wieder auf immer krassere Weise selbst enthüllen. Trump beweist seine Aufrichtigkeit durch die Artikulation seiner zunehmend schockierenden Meinungen. Und das angebliche Fehlen von Heuchelei bestätigt er etwa durch die Weigerung, seine Steuererklärung zu veröffentlichen, wodurch er indirekt einräumt, was alle Steuerzahler_innen begehren – den Fiskus zu betrügen.

So steht Trumps Unwille, seine Steuerzahlungen offenzulegen, nicht als Vertuschung seines Privatlebens da, sondern macht die demonstrative Ausstellung persönlicher Unterlagen seines Vorgängers und seiner Kontrahentin geradezu verdächtig. Ein Leben an der Oberfläche wird dadurch erreicht, dass die wiederholte und rückwirkende Demonstration von Aufrichtigkeit der Gegner_innen ausgenutzt wird, um ihnen Heuchelei zu unterstellen. Aufrichtigkeit wird hier nicht durch die Behauptung von Unschuld bewiesen, sondern durch das stolze Zugeben von steuerlichem, sexistischem und rassistischem Fehlverhalten.

Was wir in all dem sehen, sind Begehren und zugleich Ernüchterung in Bezug auf das Leben an der Oberfläche: einem Leben, das sein Versprechen von Freiheit nicht einhält und von der Nostalgie nach Tiefe und Bedeutung heimgesucht wird. Solch ein Leben macht seine Subjekte unvermeidlich zu Hologrammen. Denn Oberfläche und Tiefe bleiben durch die Tatsache verknüpft, dass Wahrheit sich vom privaten in den öffentlichen Bereich verschoben hat – in einer weiteren Version des alten demokratischen Impetus, die Transparenz gegenüber den speziellen Interessen von Expert_innen und Eliten zu bevorzugen.

 

Unsichtbare Bedeutung

Während die Oberfläche niemals der Ort der Wahrheit sein kann, ist sie auch nicht der Falschheit geweiht. Sie kann auch als ein Feld des Spiels und der Illusion dienen, in dem es Anleitungen und Hinweise zum Wirklichen gibt. Zum Beispiel zeigt Jean Baudrillards Buch Von der Verführung, wie die erotische, ästhetische und intellektuelle Anziehungskraft der Verführenden durch die Faszination der Oberflächen und Zeichen bestimmt war, nicht durch Unwahrheit.1 Hierzu gehörte die Praxis der Perspektive in barocken Gemälden, die zu ihrer Zeit als künstlich wahrgenommen wurde – sie war noch nicht naturalisiert und zeichnete sich durch die vergnügliche Illusion des Trompe-l‘oeil aus.

Der Zwang, die Wahrheit als eine Art Transparenz auf der Oberfläche manifestiert zu sehen, setzt dem Vergnügen des Kunstgriffs ein Ende, ebenso wie der immer damit einhergehenden Skepsis und Esoterik. Skepsis wurde historisch durch den Verdacht definiert, dass nichts unmittelbar Sichtbares wahr ist; und Esoterik durch die Behauptung, dass die Wahrheit immer versteckt und damit sowohl vom öffentlichen Blick als auch vom Herrschaftsdogma geschützt ist. Wenn die Oberfläche zu einem Feld von entweder Wahrheit oder Falschheit gemacht wird, dann wird sie ihrer Fähigkeit beraubt, Skepsis oder Vergnügen anzuregen.

Es war die Demokratie, die Esoterik zu Expertise und Elitenwissen werden ließ und sie dadurch inakzeptabel machte. Doch war Esoterik in der Vergangenheit nicht durch spezialisiertes Wissen definiert, sondern musste heimlich sein, gerade weil sie sowohl die öffentliche Meinung als auch die etablierte Obrigkeit infrage stellte, die sich oft aufeinander stützen. Sie neigte dazu, als offenes Geheimnis zu fungieren statt als Verschwörung, wie ihre demokratischen und autoritären Gegner behaupteten; und es gibt viele Beispiele von Leuten mit allerlei Hintergründen, die esoterisch arbeiteten und dafür ein gemeinsames Vokabular benutzten.

Leo Strauss war der erste moderne Philosoph, der Esoterik im politischen Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Leben erweckte. Er sah darin viel mehr als bloße rechtliche Kniffe und Umgehungen. So „elitistisch“ sein Unterfangen auch war, was sich in den Politiken seiner neokonservativen Anhänger offenbart: Esoterik besitzt eine lange intellektuelle Geschichte in Studium und Praxis der Mystik. Die Mystik ist eine Bedeutungsstruktur, die allen Formen etablierter Orthodoxie entgegensteht – doch ohne jede Absicht, sie auf irgendeine revolutionäre Weise zu ersetzen und damit unausweichlich zu reproduzieren. Ob in den Arbeiten von Gelehrten des Judentums wie Gershom Scholem oder des Islams wie Henry Corbin: Mystische Narrative des Rückzugs und der versteckten Subversion stellten die Esoterik nicht gegen den Totalitarismus oder gar gegen die Autorität auf, wie Strauss es tat. Stattdessen waren diese Gelehrten misstrauisch gegenüber der Sichtbarkeit als solcher.

Im Zeitalter der medialen Sättigung ist die sichtbare Welt oder tatsächlich jede Oberfläche von Erfahrung – ob visuell, haptisch oder akustisch – ein Schauplatz von Gewalt und Hegemonie in einem strukturellen Sinne. Das bedeutet, dass Herrschaft nicht länger einzig und primär der Unterwerfung eines spezifischen Subjekts – etwa eines Staates, einer Klasse oder einer rassifizierten Gruppe – bedarf. Die Welt des Sichtbaren gehört nicht mehr zu der traditionellen Unterscheidung von öffentlich und privat, die von den Medien fragmentiert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wurde.

Die räumliche Unterscheidung der öffentlichen und privaten Charakteristika des Liberalismus war schon immer porös – mit dem modularen Besitz von Privatsphäre durch ein Mittelschichtsindividuum, der auf dem Besitz von Eigentum beruht. Doch die Immaterialität digitaler und elektronischer Formen von Eigentum, der Aktien und Termingeschäfte, macht gemeinsam mit den neuen Medien diese räumliche Unterscheidung unwirksam. Anders als die nostalgischen Wenden hin zur Sicherheit des Privatlebens und zur Freiheit öffentlicher Politik, die Wahrheiten offenbaren und kontinuierlich in Spannung halten, beschäftigt sich die Esoterik nicht mit einem solchen Dualismus.

Esoterische Bedeutung ist keine Form von Eigentum oder Eigenschaft; sie ist somit weder privat noch authentisch. Die Oberfläche, die sie mit solcher Skepsis behandelt und aus der sie Vergnügen zieht, ist kein Ort einer bestimmten Wahrheit oder Falschheit, sondern ein Ort der Verführung, der Virtuosität und des Experiments. Diese Oberfläche ermöglicht es dem Denken, sich vor den Gefahren der Transparenz zu verbergen, die einst in ihrer demokratischen Legitimation als unproblematisch erachtet wurde. Gegenwärtige Debatten über Aufrichtigkeit und Heuchelei, links wie rechts, zeigen ein verzweifeltes Bemühen, innerhalb der liberalen Unterscheidung zwischen öffentlich und privat zu funktionieren, die heute zunehmend unscharf und irrelevant ist. In diesem Kontext stellt Esoterik eine sehr alte und überraschend neue Taktik dar: ein Leben an der Oberfläche, dem Wahrheit und Falschheit entzogen wurden, wo Bedeutung und Meinung für das Auge der Obrigkeit unsichtbar gemacht werden. Die Weise, wie in jüngeren Wahlen und Referenden, etwa in den USA und im Vereinigten Königreich, Meinungsumfragen vereitelt wurden, deutet eine Weise an, wie Esoterik politisch wirkt, indem der Oberfläche Bedeutung entzogen wird.

Die liberale Ordnung wurde lange als eine räumliche Unterscheidung zwischen öffentlich und privat definiert. Terrorismus und soziale Medien unserer Zeit sind hingegen durch eine zeitliche Unterscheidung von Taten und Untätigkeit strukturiert. Esoterik arbeitet unter den Ruinen des einen und mit der Flüchtigkeit des anderen. Sie misstraut der Oberfläche, die sie bewohnt, ohne in einer abgeschiedenen Höhle Zuflucht zu suchen. Sie operiert auf dieser Oberfläche, die als Verlockung und Spiel verstanden wird, um der Bedeutung sowohl eine psychische Innerlichkeit als auch eine demokratische Transparenz zu verweigern. Anstatt Bedeutung an die Oberfläche zu bringen, bewahrt Esoterik die Wahrheit vor der Sichtbarkeit, die als Hauptschauplatz von Gewalt verstanden wird.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.

Dieser Essay erschien im transmediale journal – face value edition. Die Printausgabe des Journals ist hier erhältlich.

  • 1. Jean Baudrillard, Von der Verführung, Berlin: Matthes & Seitz 2012; deutschsprachige Erstausgabe München 1992.

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