Politisches Video in Frankreich? Von Nathalie Magnan

03.03.2017

Politisches Video in Frankreich? Von Nathalie Magnan

Wenn man versucht, eine Darstellung des politischen Videos In Frankreich zu geben, spricht man von einem Genre, das seit 1986 praktisch nicht mehr existiert. Sicher, wenn man gewissenhaft sucht und alle Einrichtungen, die mit der Verbreitung von Videos beschäftigt sind, bittet, auch ganz tief unten in Ihren Schubladen nachzuschauen, sie an Vergessenes erinnert oder die politischen Netzwerke anspricht, dann schafft man es immer, fündig zu werden. Aber es Ist nicht "modisch", in Frankreich über diese Fragen zu sprechen, selbst wenn es nach der Orgle des Golfkriegs so aussieht, als ob es eine Rückbesinnung auf politische und Fragen der Repräsentation gäbe. Man hat mich gebeten, an dieser Stelle das Thema "Politik und Dokumen-tatlon" zu behandeln. Warum das Politische auf dieses Genre beschränken? Geht man damit nicht von einer filmischen Tradition aus, die andere, nicht unbedingt dokumentarische Formen, ausschließt?

Für die Darstellung des politischen Videos würde ich Videos suchen, die das Reale reflektieren und analysieren, nicht nur durch ihren Gegenstand, sondern auch durch Ihre Darstellungswelse, durch ihre spezifische Sprache und die Methode ihrer Verbreitung. Ich befände mich auf der Suche nach einer neuen Ausdrucksform, die überall (auch in den südlichen Ländern) ihren Platz gefunden hat, überall - nur nicht In Frankreich. Sie ist das Produkt einer durch Aufkommen der Camcorder und die Reflexion über Medien ausgelösten Revolution. Die Begriffswelten dieser Form sind uneinheitlich, kreisen aber immer um den selben Gegenstand, der Beschäftigung mit dem Realen, In Fortführung des "engagierten" Videos unserer Väter und Mütter, in einer Hinsicht jedoch radikal anders: Video interveniert selbst, Ist Tac- tic TV, Alternativ-Video, Widerstandsvideo, Kunst-TV. Diese Bänder hinterfragen die Position der Aussage ("Wer spricht?"), Ihren Bezug zum Dargestellten und dekonstruieren häufig die Dichotomie von Subjekt und Objekt, reflektieren über die Produktion und gleichzeitig ihre Verbreitung: "Wem und wie?" Diese Produktionen sprechen für "communitles" (mangels eines besseren Ausdrucks), die von geographischen oder Gruppenzugehörigkelten bestimmt werden (schwarz, schwul, Frauen-...). Anhand ausländischer Produktionen könnte man es definieren: Desplte tv, einige Programme von Channel 4, (Großbritan-nien), Paper Tiger TV, Deep Dish TV, DIVA TV (Damned Interfering Video Ac- tivists), Not Channel Zero, Paul Garrln, etc,. (USA), Canal X (Deutschland), "Vldéogram- mes d'une revo-lution" von Harun Farocki und Andrej Ujlca, TV Viva (Brasilien), die Liste ist noch lang...

Ich möchte hier nicht von den Dokumentationen sprechen, die ein Festival des "Films über Realität" bilden könnten. Der oben beschriebenen Haltung entsprechen auf exemplarische Welse die Experimenten von Canal Déchalné, Riquita Video oder Im'médla, was keine umfassende Liste ist. Canal Déchainé besteht aus Medien- profis, die zu Beginn des Golfkrieges die Initiative ergriffen haben. Ihr Band "Avez-vous vu la Guerre" enthüllt das Funktionieren der Medien und ana-ly- siert die Beziehungen zwischen Medien und Krieg mittels einer Reihe Interviews mit Intellektuellen bei Ausbruch des Krieges Dle Agentur Im'médla Ist ein Kollektiv von Medienarbeitern, welche die gemeinsame Vergangenheit als Immigranten verbindet. Die 1983 gegründete Multimedia-Agentur hat gerade eine Trilogie über Rassismus in Frankreich, England und Deutschland fertiggestellt. Diese Trilogie Ist investlgatlver Journalismus mit präziser Perspektive, denn alle Macher stammen aus Immlgrantenfa-mlllen, haben die Bewegungen des antirassistischen Kampfes von Nahem erlebt und lassen der Immigration entstammende Menschen zu Wort kommen. Das Kollektiv Riquitta Vidéo schließlich hat ein, wie sie es nennen, "Triptychon" produ-ziert: "Die Unberührbaren", dessen erster Teil vom Lumpen-proletariat handelt, Im zweiten Teil die Biographie eines schwulen Immigranten erzählt, und sich Im dritten Teil dem Fahrenden Volk zuwendet. Diese Videos definieren Realität nicht vom Standpunkt des klassischen Journalisten aus, sondern durch partelliche Stellungnahme.

Woher kommt die Abwesenheit des politischen Diskurs?

Ohne eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu versuchen, möchte ich einige Elemente zu Ihrer Beantwor-tung beisteuern:
- Soziale und politische Dokumentation Ist Sache des Films. In einem Land, das sich durch seinen Formalismus auszeichnet, sind Kino und Video noch streng getrennt. Für die Doku- mentarfllmer ist der 16 mm-Fllm ein wahrer Fetisch und Video purer Notbehelf. Ein Besuch des Dokumentarflmlfestivals von Lussas könnte diese Behauptung untermauern. Seit ein paar Jahren gibt es mehr und mehr Gruppen wie "La 8", deren Ziel die Förderung der Verwendung leichter Video-ausrü- stungen ist, und die zahl-reiche Diskussionsveranstaltungen über diese Frage anregen. Sie führen jedoch bislang nur ein Nischendasein In der allge-meinen Entwicklung.

- Bei meiner Rückehr aus dem selbstgewählten zwölfjährigen Exil überaschte mich die in den 80er Jahren vollzogene Abkehr der 68er von ihrer Vergangenheit. Alles, was als "Linksextremismus'' verstanden werden konnte, wurde als "rückständig" erklärt, so als ob im Frankreich der 70er Jahre nicht ein radikales soziales Wissen erarbeitet worden wäre, das heute noch in anderen Ländern wegweisend ist. Speziell in den angelsächsischen Ländern bezieht man sich auf die französischen Philosophen und führt die interdisziplinäre Reflektion in den "kulturkritischen Abteilungen" fort. Es scheint, daß es in Frankreich eine pauschale Ablehnung, ein Be-dürf- nis nach Vergessen gibt, das die französischen Video-ma- cher in eine widersprüchliche Situation bringt. Manche dieser Debatten sind Vergangenheit die Fragen jedoch behalten ihre Bedeutung und sind dabei nicht weiterentwickelt worden das Wissen bleibt in den Ftän- den einer Generation. Jene, die heute 20 Jahre alt sind, erfinden manchmal die poli-tisch- en Fragen auf ungeschickte Weise neu. Ich geriet dadurch in absurde Situationen, in denen ich erstens Leuten erklären mußte, daß ich 1968 zwölf Jahre alt war und keinerlei Nostalgie für diese Zeit empfinde, und zweitens, was der Unterschied zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ist - im Rahmen eines Diskurses der Indentitäts- findung von Leuten, die nie Es- sentialisten waren und die Debatte als essentialistisch oder, schlimmer noch, als reli-giösen Fundamentalismus oder Nationalismus produzierend bezeich- neten, und sie mit die-sem rhetorischen Trick beendeten.

- Die Abwesenheit politischer Aussagen in Videos rührt auch vom politischen Nicht-Bewußtsein im Frankreich der 80er Jahre her. Die Leiterin des Centre Simone de Beauvoir, Claudine Delvaux, hat für eine Retrospektive über 10 Jahre Arbeit ihrer Einrichtung kein "politisches" Band finden können. Ihrer Meinung nach ist "Video ein unmittelbarer Reflex der alltäglichen Ereignisse. Es gibt in Frankreich kein politisches Denken, und, was noch beun-ru- hingender ist, keine Forderungen mehr. Es ist belastend geworden, eine Identität zu besitzen, und die allgemeine Tendenz geht dahin, zu sagen 'so lange es hält, klammere ich mich daran fest'. Video in Frankreich ist Sache einer abgeschotteten Familie," Marie Mass fügt hinzu: "Die Machtübernahme durch die Linke hat das für einen alternativen Diskurs offene Publikum ausgelöscht. Das Engagement hat sich zur Videokunst hin verlagert, ist künstlerisches Engagement geworden". Dies Bemerkungen deuten die perversen Effekte des Sozialismus an, die jede klare Stellungnahme neutralisiert haben. Man kann dem auch hinzufügen, daß die industrialisierten Länder in den 80er Jah ren konservativer geworden sind. Ob man Reagan/Bush, Thatcher oder Mitterand hat, ist sicher ein Unterschied und die Franzosen sind sicher besser davongekommen als andere. "Wir" sind aber ebenfalls verantwortlich für die "Neue Weltordnung". Für Felix Guattary waren diese Jahre "die Jahre des Winters". Nehmen wir zum Beispiel das große politische und soziale Ereignis der 80er Jahre: AIDS. Man könnte annehmen, daß Gruppen ohne identitätsprobleme wie Act-Up! (AIDS Coalition To Unleash Power) zu Anführern des Diskurses werden. Wie dringend der Kampf gegen AIDS ist, und wie intelligent diese Gruppe mit den Medien umgeht, braucht nicht mehr bewiesen zu werden. Ohne die enorme Arbeit, welche von ihr geleistet worden ist, kleiner machen zu wollen, muß man feststellen, daß es, im Gegensatz zu anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder England, trotz der Omnipräsenz von Camcordern bei allen Aktionen, nur Stückwerk und kein zusammenhängendes Band dazu gibt, Muß man noch daran erinnern, daß es in Frankreich drei mal so viele AIDS-Fälle wie in Deutschland und fünf mal so viele wie in England gibt? Einer der oft erwähnten Gründe dafür ist, daß die ln-formationen nicht schnell genug die betroffenen Gruppen er-reichten Wenn die nötigen Bänder gedreht worden wären, wo hätte man sie vorgeführt? Das Kabelnetz ist sehr klein, es gibt keine Offenen Kanäle, die lokalen Sender im Äther kümmern sich um andere Probleme, die Fernsehsender suchen den all-gemeinen Konsens, folglich bleiben nur die Vertriebsnetze für Filme, die es bereits 1970 gab.

1 In den 90ern herrscht Unwohlsein an Bord, und wenn man den jungen Regisseuren und Vertriebsleuten zuhört, ist fraglich, ob der Formalismus, den wir aus den 80ern kennen, die einzige Form der Videoproduktion in Frankreich bleiben wird. Zu dieser Geschichte empfehlen sich folgende Werke: For further reading on this theme we recommend the following works:
Guy Hennbel, Le Cinéma Militant, Zweimonatsschrift, Cinéma D'Aujourd'hui, n°5-6, März-April 1976
Yvonne Mignot-Lefevre, Vidéo des Années 80, Zweimonatsschrift Film Action n °l, Dezember 1981, Januar 1982

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