Die Psychologie der paranoiden Ironie

Essay
12.02.2018

Die Psychologie der paranoiden Ironie

Image by Samuel Zeller

Eine rachsüchtige künstliche Intelligenz – Rokos Basilisk, eine in Online-Foren heraufbeschworene Figur – bildet den Einstieg in Ana Teixeira Pintos Analyse eines psychologischen Zustands, der durch Online-Interaktionen begünstigt wird und zu scheinbar widersprüchlichen Haltungen geführt hat: völlig paranoid und zugleich vollkommen distanziert. Gefühle der Entmündigung, gekoppelt an die empfundene Allmacht, die das Internet zu verleihen scheint, haben in apokalyptischen Fantasien eine symbolische Form gefunden. Diese Verblendungen sind von quasi magischer und hyperstitioneller Beschaffenheit und zu einer Ideologie verschmolzen, die ebenso religiös wie logisch erscheint, trotz des Beharrens ihrer Anhängerschaft auf dem Primat der deduktiven Vernunft. Mit einer Reihe von Double Binds konfrontiert, werden einige Bevölkerungsteile schließlich in Reaktion auf ihre eigene Machtlosigkeit „Gewalt und Soziopathie“ befürworten, trotz des Versprechens der ungebundenen individuellen Macht im Informationszeitalter.

 

Rokos Wette

Am 23. Juli 2010 postete ein Nutzer namens Roko eine gewundene Spekulation im Onlineforum LessWrong, „einem Gemeinschaftsblog, das sich dem Verfeinern der Kunst der menschlichen Vernunft widmet“. Das Blog wird durch Eliezer Yudkowsky, Mitgründer des Machine Intelligence Research Institute (MIRI), von der kalifornischen Bay Area aus betrieben. In jenem Beitrag stellt Roko die Hypothese auf, dass eine künftige künstliche Intelligenz womöglich rückwirkend die Menschen bestrafen werde, die unwissend zu ihrer ursprünglichen Entwicklung beigetragen haben. Rokos hypothetische künstliche Intelligenz wurde als „Basilisk“ bekannt.1

Obwohl Rokos Gedankengang wirr klingt, behaupteten viele Kommentatoren, dass seine Sorge vom Bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriff gestützt sein könne – der versuchten Quantifizierung der begründbaren Erwartung (Überzeugung), dass ein Ereignis eintreten könnte, im Gegensatz zur tatsächlichen Häufigkeit oder Propensität von dessen Eintreten.2 Doch keiner dieser Kommentare erläuterte, wie Bayes’ Methoden genau auf Rokos rachsüchtige künstliche Intelligenz anwendbar seien. Es gibt bislang keine Manifestation oder historische Aufzeichnung von irgendeiner KI, ob bösartig oder nicht, die eine solche Schlussfolgerung stützen würde. In Abwesenheit verlässlicher Daten ist jede Erwartung gänzlich spekulativ beziehungsweise unbegründet.

Außerdem, so erzählt Roko, sei der Basilisk allwissend (er wisse kategorisch, ob du Rokos Beitrag gelesen hast oder nicht) und allmächtig (er könne durch digitale Simulation deinen Geist wiederauferstehen lassen und dich bis in alle Ewigkeit foltern). Seine Theoretisierung ist eine Geste in Richtung einer mathematischen Bekräftigung des abrahamitischen Bundes: Wer daran scheitert, die Arbeit des Herrn auszuführen, dem wird ewige Strafe gebühren.

Vorausgesetzt, dass der Basilisk einige Eigenschaften mit dem Gott der monotheistischen Religionen gemein hat, kommt Rokos Mutmaßung bemerkenswert nah an die Pascalsche Wette heran. Wie Roko schlug Blaise Pascal im späten 17. Jahrhundert vor, dass Menschen ihr Leben darauf verwetteten, an Gott zu glauben oder nicht – und zwar unter unglücklichen Bedingungen: a) Es ist unmöglich, zu bestimmen, ob Gott existiert, und b) es ist unmöglich, aus der Wette auszusteigen.3

Pascal beabsichtigte mit der Wette keinen Beweis der Existenz Gottes. Er argumentierte vielmehr, der Glaube an Gott müsse als eine pragmatische Entscheidung behandelt werden: Selbst wenn die Existenz Gottes unwahrscheinlich sei, so sei der potenzielle Schaden für jene, die keinen Glauben haben, so enorm (ewige Pein), dass es unendlich vernünftiger sei, an Gott zu glauben als atheistisch zu sein. Die Wette muss nicht als Werkzeug der Überzeugung erfolgreich sein, um als Werkzeug der Bemessung zu dienen. Doch trotz seines mathematischen Werts deutet Pascals Gedankenexperiment auch auf etwas weniger Greifbares hin: die Ungleichwertigkeit von Vernunft und Verstand.

Auch wenn es kontraintuitiv erscheinen mag – es gibt eine Wahlverwandtschaft zwischen Wahrscheinlichkeitsschätzung und Psychose: Vernunft kann unvernünftig sein.4 Wie George E. Marcus anmerkt, stehen paranoide Vorstellungen in einem vieldeutigen Verhältnis zu Vernunft und Logik und werden oft „mit letzterer verwechselt oder identifiziert“.5 Aus dieser Perspektive ist Paranoia nicht das Gegenteil von Vernunft, sondern eher eine verschärfte Version davon.6 In Evelyn Fox Kellers Worten leidet Rokos Wette „nicht an einem Mangel an Logik, sondern an Wirklichkeitsfremde“.7 Wir könnten sagen, Paranoia sei ein Interpretationsstil auf der Basis von „subjektivem Bedarf – insbesondere dem Bedürfnis der Verteidigung gegen das verbreitete Gefühl der Bedrohung der eigenen Autonomie“.8 Dies führt zur Personifizierung von künstlicher Intelligenz als ödipalem Biest (dem Basilisken) und von Code als männlichem Samen.9 Wer mathematische Belege für die Wahrscheinlichkeit dieser Vorhersage sucht, verfehlt das Thema. Der Inhalt von Rokos Gedankenexperiment ist symbolisch, nicht wissenschaftlich: Es spricht durch Symbole und Gleichnisse.

 

Paranoide Ironie

Der Imageboard-Überlieferung zufolge ist die Überlappung zwischen der ägyptischen Gottheit Kek und der Comic-Figur Pepe der Frosch an eine Reihe numerischer Zufälle geknüpft. Diese wurden als Omen wahrgenommen und führten Nutzer_innen zum Verdacht einer paranormalen Intervention in die US-amerikanischen Wahlen im Jahr 2016: Die Magie der Meme habe Trumps Kandidatur hervorgebracht – die perfekte Veranschaulichung des Konzepts der „Hyperstition“, der Umsetzung von Fiktion in Fakten. Die Unterscheidung zwischen einer Bewegung und einer Verschwörung ist hier ein rein theoretischer Streitpunkt. Mem-Magie hat eine mythisch-poetische Funktion: Sie erzeugt durch eine synkretische Sammlung von Ägyptologie, Cyber-Obskurantismus, Hypersigillen und Gematrie ein kultisches Milieu, das von „Enthüllungserfahrungen“ bevölkert wird. 10

Wie der Basilisk macht der „Kult des Kek“ die Logik zu einem Folterporno – zu einem Vorstellungsstil, der mit falscher Aufrichtigkeit von jenen betrieben wird, die in Online-Mundart als „shitposters“ gelten. Als unverbindliche Ausdrucksform überlappt sich Ironie mit dem rapiden Wachstum der rechten Bewegung, die den Spitznamen „alt-right“ angenommen hat, sowie deren idiosynkratischer Fusion obskurer Rätsel mit vermeintlichem Common Sense. Ihre Ironie hat die Absicht, zu demaskieren, aufzudecken, zu enthüllen. Spekulative Fantasterei ist hier weit verbreitet: Traue niemandem; nichts ist, was es zu sein scheint; nur das Unglaubliche kann geglaubt werden.

Oft zum Ausdruck von Skepsis genutzt, ist die Ironie lange als Werkzeug der Subversion wahrgenommen worden, als Ort einer „hinterfragenden und kritischen Haltung“, die daher mit politischer Fortschrittlichkeit zusammengedacht wurde.11 Doch indem stillschweigend das Gegenteil von dem impliziert wird, was wörtlich gesagt wird, ermöglicht Ironie auch den Erhalt einer Position der moralischen oder politischen Ambivalenz. Von der alternativen Rechten („alt-right“) angewendet, eröffnet dies einen toxischen Kreislauf zwischen nonkonformistischem Ethos, gegenkultureller Popkultur, Sofa-Esoterik und unverblümtem Rassismus. Angela Nagle fasst die „klassische Online-Masche“ der Shitposter als Flirten mit faschistischen Bildern und rassistischen Wendungen zusammen, die dazu dienen, „sich vor der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen, seien es ästhetische oder andere, zu drücken“.12

Doch zwischen Shitposting und spiritueller Suche scheint ein schmaler Grat zu liegen. Aus dem aufmerksamkeitsheischenden Widerspruchsdenken, das Shitposting bislang ausgemacht hatte, ist aller Streitbarkeit zum Trotz eine ziemlich paradoxe Mischung aus Allmachtsfantasien und einer empfundenen Verwundbarkeit hervorgegangen – das Subjekt, das sich zugleich enorm mächtig und furchtbar bedroht fühlt. Der Übergang zu Monomanie, Verfolgungsvorstellungen und Verschwörungsdenken ist am Ende fließend.

Auf den ersten Blick passen die Zutaten der paranoiden Verschwörung und des ironischen Gehabes nicht zusammen. Es kommt die Frage auf: Kann eine paranoide Person ironisch sein? Paranoia verdinglicht Einzelereignisse und verabscheut Heteroglossie, während Ironie ihren Gegenstand instabil macht und der Ambivalenz frönt. Soll Ironie nicht den übermäßigen Eifer und Überschuss emotionaler Involviertheit abfangen, also genau die Eigenschaften, die das Paranoide bestimmen?

 

Oneworldedness

„Einweltlichkeit [oneworldedness] entwirft den Planeten als eine Erweiterung paranoider Subjektivität, die von Verfolgungsfantasien, Katastrophismus und Monomanie gefährdet ist. Wie die Globalisierung verleumdet Einweltlichkeit die territoriale Souveränität und maskiert ihre Identität oft als einen anderen Namen für ‚Amerika‘. Doch Globalisierung ist ein amorpher Begriff, der für wirtschaftlichen Neoimperialismus benutzt wird. Einweltlichkeit bezieht sich in meiner Definition hingegen enger auf eine rauschartige Ästhetik der Systematizität; auf die Übereinstimmung zwischen Kognition und Globalismus, der von der paranoiden Prämisse zusammengehalten wird, dass ‚alles miteinander verbunden ist‘.”13

Im Zeitalter von Netzwerken ist buchstäblich alles miteinander verbunden. Folglich wird Erfahrung im Allgemeinen von der gleichen paradoxen Mischung aus Allmacht und Verwundbarkeit charakterisiert, die Shitposting ausmacht. Wie Felix Stalder betont, beruhen Systeme des vernetzten Regierens auf informellen statt formellen Strukturen: Anders als Gesetze treten Protokolle durch ihre freiwillige Anwendung in Kraft.14 Ihre Durchsetzung ist dezentralisiert und allgegenwärtig, doch einmal angewendet, werden Protokolle zu Verfasstheiten, aus denen sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteur_innen aufbauen. Sie werden ebenso von den Interaktionen aufrechterhalten, die sie erzeugen, wie von den Abhängigkeitsverhältnissen, die aus ihnen folgen.

Obwohl solche Erzeugnisse anfänglich als gutartig betrachtet werden (wie bei Facebook, der EU, der WTO, dem IWF oder Airbnb), wird schnell deutlich, dass sie versteckte Kosten mit sich bringen. Doch nur selten gibt es die Option, den vom Protokoll bestimmten Raum zu verlassen, weil die finanziellen oder gesellschaftlichen Strafen dafür beträchtlich höher wären als für ein Verbleiben. So gibt man im Fall von Facebook etwa die Privatsphäre zugunsten der Relevanz auf – und damit zugunsten des Potenzials, Erträge einzufahren. Für Stalder ist das Ergebnis ein psychologisches Paradox: Alle tun schließlich freiwillig das, was niemand wirklich tun will. Formale Hierarchien werden womöglich verübelt, aber ihre Architektur ist ausdrücklich; in Netzwerksystemen maskiert sich der Zwang von außen oft als Zwang von innen.

„Freiwillig zu tun, was niemand wirklich tun will“, ist auch eine passende Beschreibung dessen, was Gregory Bateson als Doppelbindung [double bind] bezeichnet. Den Begriff prägte er, um die emotionale Not zu beschreiben, die Personen erfahren, wenn eine sekundäre Anforderung auf einer Meta- oder höheren Ebene einer elementaren Anforderung widerspricht. Bateson formulierte sein Konzept erstmals, als er John C. Lilly beobachtete, der mit Schweinswalen in Gefangenschaft „operante Konditionierung“ erprobte. Erst wurden die Tiere dazu trainiert, einen Trick darzubieten, wofür sie mit Nahrung belohnt wurden. Dann sollten sie ihr Repertoire erweitern und jedes Mal einen neuen Trick darbieten. In der Praxis bedeutete das, dass die zweite Darbietung desselben Tricks keine Futtergabe auslöste. Wenn sie gar nichts taten, wurden sie auch nicht gefüttert. Infolge ihrer Bestrafung, die unabhängig davon eintrat, ob sie dem Befehl des Trainers Folge leisteten oder nicht, und unfähig, den Sinn der Situation zu erfassen, wurden die Wale aggressiv, verwirrt und soziopathisch. Diese Experimente ließen Bateson spekulieren, dass paranoide Schizophrenie eine Folge der fortwährenden Konfrontation mit Doppelbindung ist.15

Das Konzept der Doppelbindung ermöglicht es, die Frage nach den Ursachen von Psychosen aus dem Mentalen ins Soziale umzuleiten, indem die Umgebung, die Interaktion und die Struktur von Kommunikationskanälen einbezogen wird. Gayatri Chakravorty Spivak hat die Verwendung des Konzepts verallgemeinert, indem sie argumentierte, dass die Erfahrung der Globalisierung eine Erfahrung der Doppelbindungen sei.16 Kohlebergarbeiter, die von der Weltwirtschaft abgehängt werden, schulen sich nicht zu Software-Ingenieuren um; stattdessen werden sie sich mutlos und frustriert fühlen (ähnlich wie Lillys unglückliche Schweinswale) und einen Zusammenbruch gesellschaftlicher Verbindungen, Verzweiflung und Armut erleben. Die Verbreitung von Anomie wird wiederum Gewalt und Soziopathie hervorbringen.

Das Globale ist weltlos, wie Alain Badiou argumentierte.17 Der Triumph der westlichen freien Marktwirtschaft ist gleichbedeutend mit einem Abstieg des Westens: Globalisierung impliziert einen Verlust an Vorherrschaft, kulturell wie politisch. Rokos Basilisk verzerrt diesen geopolitischen Umstand zu einer moralischen Parabel über die Kreatur, die sich von ihrer Schöpfungsinstanz emanzipiert. Der Basilisk ist der Kapitalismus mit fremdem Gesicht.18 Cyber-Obskurantismus ist dessen Wertform: die Figur, die der abstrakten Dimension des Tauschwerts ein konkretes Eigenleben verleiht.19

Doch diese Personifizierung von digitaler Technologie lässt auch den Klassenantagonismus aus. Nicht alle gesellschaftlichen Spannungen finden politischen Ausdruck. Nichtsdestotrotz finden sie eine Form: Sie richten sich aus oder heften sich an Objekte, Idiome oder Erzählbilder. Wir bezeichnen diese Narrative, die eher ästhetisch denn rational zusammenhängen, als Ideologie.20 Der Basilisk ist eine Beschreibung der politischen Ökonomie und eine eschatologische Erzählung: Rettung kann nur durch Einschluss in den digitalen Marktplatz erlangt werden; und wer es nicht schafft, das eigene Leben dem Basilisken zu widmen, wird zur Unterklasse.21 Aus dieser Perspektive steht KI analog zum Kapital: Wie Lauren Berlant argumentiert, findet Begehren immer sein Objekt, „sogar zum Preis der massiven Verkennung“.22

1991 verknüpfte Fredric Jameson diese Lücke zwischen phänomenologischer Erfahrung und den sie bestimmenden ökonomischen Strukturen mit der Obsoleszenz marxistischer Hermeneutik. Verschwörungstheorien sind die institutionelle Kritik des armen Mannes, eine degradierte Version des dialektischen Materialismus, die von einem Abrutschen in „schiere Motive und Inhalt“ gekennzeichnet ist.23 Peter Knight zufolge ist Verschwörungsdenken „weniger ein Zeichen der geistigen Umnachtung, als eine ironische Haltung gegenüber Wissen und der Möglichkeit von Wahrheit, die im rhetorischen Bereich der doppelten Verneinung funktioniert“.24

Die Magie der Meme und des Chaos, die Konzepte der „Hyperstition“ oder Hypersigillen, die Theosophie und andere Stränge westlicher Esoterik, der Transhumanismus des Silicon Valley und Scientology basieren alle lose auf der Idee, dass Gedanken Dinge seien – oder sie sind besessen von der Materialisierung übersinnlicher Phänomene. Theoretisch gesprochen beinhalten die meisten der oben genannten Strömungen eine Verschmelzung von „Pancomputationalismus (der Vorstellung, dass alles rechnet) und Panpsychismus (der Vorstellung, dass alles ‚denkt‘)“.25 Diese philosophischen Überzeugungen könnten auch als eher alltägliche Binsenweisheiten bezeichnet werden: Unsere gänzlich von Schnittstellen durchzogenen Infrastrukturen erzeugen eine empfindsame und reaktionsfähige Umgebung, in der schlussendlich alles von Code durchdrungen und belebt wird, der die Autorität des Unergründlichen ausübt.26

Gefangen in der Doppelbindung der „Gig-Economy“ [einem auf Freiberufler_innen basierenden Wirtschaftsmodell], sind besonders Menschen der Jahrgänge 1980 bis 2000 dazu angehalten, ihre Identitäten an Start-ups und Social-Media-Plattformen auszurichten (ähnlich wie ihre Eltern sich vielleicht am amerikanischen Traum beziehungsweise an Aufstiegsmobilität orientierten) und die unternehmerischen Formen der Subjektivität als Freiheit und Autonomie zu verkennen. Das Überleben des Kapitalismus hängt an digitaler Technologie, genauer gesagt, an der Entwicklung künstlicher Intelligenz: dem gegenwärtig einzigen schnell wachsenden Sektor und alleinig überzeugenden Versuch, eine weitere Phase der kapitalistischen Akkumulation jenseits der – bereits erschöpften – neoliberalen zu entwerfen.27 Aus einer Marktperspektive ist KI ein reformistisches Projekt, doch die Vergeschlechtlichung von maschinellem Tiefen Lernen durch spektakuläre Geschichten über Macht und Männlichkeit verkauft sie als etwas Radikales. Wie alle Güter spricht auch KI die Sprache des Fetischs: Sie nimmt ein Geschehen aus dem Zusammenhang und verpackt es in reine Terminator-Form.28 Mit paranoider Dringlichkeit, Nihilismus und Angstlust [phobophilia] gesättigt, ist der Basilisk ein weiteres gesellschaftlich geduldetes Narrativ, in dem (männliche) Aggression kulturelles Kapital und im weiteren Sinne ökonomischen Wert ansammelt.29

Um es in Anlehnung an einen Satz von Dmitrij Šostakovič über den Beitritt zur Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu formulieren: Man kann nicht ironisch für Trump stimmen. Man kann aufrichtig für Trump stimmen oder man kann zynisch für Trump stimmen.30 2003 sagte Fredric Jameson bekanntermaßen, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt auszumalen als das Ende des Kapitalismus.31 Weite Teile der (überwiegend weißen und relativ wohlhabenden) Bevölkerung, die nicht von Jahrhunderten der Verfolgung belastet sind, scheinen das Ende der Welt – unbewusst oder halb bewusst – tatsächlich dem Ende des Kapitalismus vorzuziehen. Unter dem mehrdimensionalen Druck von Wachstumsrücknahme [degrowth], demographischem Wandel und Klimakrise wird diese Gruppe sich auf die Seite des Basilisken schlagen – nicht trotz dessen genozidalen Wesens, sondern genau deswegen.

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.

Dieser Essay erschien im transmediale journal – face value edition. Die Printausgabe des Journals ist hier erhältlich.

 

  • 1. Es ist unklar, wie Rokos bösartige Künstliche Intelligenz zum Basilisken wurde – einem schlangenähnlichen, kammtragenden Legendenwesen, das diejenigen straft, die von seinem Blick getroffen werden. Das Wappentier, das sich bis ins antike Griechenland nachvollziehen lässt, kam in Harry Potter und einer jüngeren Manga-Serie vor. Doch der Basilisk ist zudem ein uraltes antisemitisches Erzählbild, das auch Martin Luther in Von den Juden und ihren Lügen (1543) nutzt. Angesichts der Tatsache, dass Formen neoreaktionärer Ideologie und der ethnonationalistische MoreRight-Blog von Michael Anissimov aus LessWrong hervorgegangen sind, liegt die Annahme nicht fern, dass diese Konnotation beabsichtigt ist.
  • 2. Thomas Bayes, dessen Werk der Bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff entspringt, war ein englischer Mathematiker und Theologe (1701–1761).
  • 3. Pensées („Gedanken“) ist eine Sammlung von theologischen und philosophischen Fragmenten des Philosophen und Mathematikers Blaise Pascal von 1670, in der er seine berühmte Wette entwirft.
  • 4. Diese Nähe ist auch mit der Frage nach mutmaßlichen, jenseits unserer eigenen bestehenden Parallelwelten verknüpft, die psychotischem Wahn und Wahrscheinlichkeitsmessung gemein sind.
  • 5. George E. Marcus, Paranoia within Reason, Chicago: University of Chicago Press 1999, S. 2.
  • 6. Ebd.
  • 7. Evelyn Fox Keller, Reflections on Gender and Science, Yale University Press 1985, S. 121–122.
  • 8. Ebd.
  • 9. A. d. Ü.: Bezug ist hier die Seed-AI als Zeugungsmoment, die allerdings meist als Saat-KI ins Deutsche übersetzt wird, womit die Assoziation mit Sperma etwas geringer wird.
  • 10. Eine Sigille ist ein bildliches Symbol oder Zeichen, das üblicherweise genutzt wird, um einen Dämon zu beschwören; eine Hypersigille ist die erzählerische Visualisierung einer Absicht oder eines Wunsches. Der englischsprachige Begriff der „hyperstition“ (abgeleitet von „superstition“, dt. Aberglaube) wurde von Nick Land geprägt, um das Wirken von derartig mit Bedeutung belegten Objekten (etwa Sigillen, Hypersigillen oder Memen) in der Erzeugung von Wirklichkeit durch emotionale Involviertheit (Überzeugung oder Hype, das heißt künstliche Stimulation) zu beschreiben: Wenn genug Menschen davon überzeugt sind, dass es wirklich ist, dann wird es tatsächlich wirklich. Gematrie ist ein System, das Worten oder Namen numerische Werte zuweist. Eine abgeschmackte Variante von Gematrie wird in rechtsextremen Codes benutzt, so steht zum Beispiel die „88“ für „Heil Hitler“.
  • 11. Ironie kann tatsächlich ermöglichen, unter beschwerten oder wirklich gefährlichen Umständen, die andere Formen des politischen Ausdrucks unmöglich machen, Misstrauen oder Dissens zum Ausdruck zu bringen. Aber Ironie kann auch Komplizenschaft maskieren. Vor allem aber ist Ironie ein Verteidigungsmechanismus. Psychoanalytisch gesprochen minimiert Ironie ihren Gegenstand, während sie die Selbstzufriedenheit und das Überlegenheitsgefühl des Subjekts maximiert.
  • 12. Vgl. Angela Nagle, „Goodbye, Pepe: The End of the Alt-Right“, in: The Baffler, 15. August 2017 sowie Christy Wampole, „How to Live Without Irony“, in: The New York Times, 18. November 2012
  • 13. Emily Apter, „On Oneworldedness: Or Paranoia as a World System“, in: American Literary History, 18/2 (Sommer 2006), S. 365–389.
  • 14. Felix Stalder, „State Technologies: Data“, Vortrag im Rahmen von Now Is the Time of Monsters, Haus der Kulturen der Welt, Berlin (23. März 2017), [https://www.hkw.de/en/app/mediathek/audio/55710], letzter Zugriff am 11.12.2017.
  • 15. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, Chicago: University of Chicago Press 2000 [1972]), S. 278
  • 16. Gayatri Chakravorty Spivak, An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Harvard University Press 2011.
  • 17. Alain Badiou, Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis II, diaphanes: Zürich/Berlin 2010.
  • 18. Der Basilisk könnte als Chiffre für die imaginierte Figur oder Gruppe im Zentrum der symbolischen Ordnung stehen, seien es „die Juden“ oder „China“. Wie Yuk Hui argumentiert, sind die kryptofaschistischen Bewegungen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind, ein Symptom der Angst des Westens vor chinesischer Überlegenheit. Vgl. Yuk Hui, „On the Unhappy Consciousness of Neoreactionaries“, in: e-flux journal, April 2017.
  • 19. Vgl. Sami Khatib, „Sensuous Supra-Sensuous: The Aesthetics of Real Abstraction“, in: Samir Gandesha und Johan Hartle (Hg.): Aesthetic Marx, London: Bloomsbury 2017, S. 49–72.
  • 20. Lauren Berlant, Desire/Love, New York: Punctum Books 2012, S. 37.
  • 21. In einem harmloseren Beispiel bringt die „Flat Earth Theory“ eine postfordistische gesellschaftliche Angst durch eine Verwirrung von Kategorien zum Ausdruck: Der Prozess der Globalisierung wird mit dem Erdball, ihrem Symbol und Emblem, verquickt. Es könnte argumentiert werden, dass die Flat Earth Theory für das Begehren steht, zu einer nicht-globalisierten Welt zurückzukehren.
  • 22. Berlant, S. 37
  • 23. Fredric Jameson, Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham NC: Duke University Press 1991.
  • 24. Peter Knight, Conspiracy Culture: From Kennedy to The X Files, London: Routledge 2001, S. 2.
  • 25. Matteo Pasquinelli, „On Solar Databases and the Exogenesis of Light“, in: e-flux journal, 4. Juni 2015.
  • 26. Vgl. Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York: Crown 2016.
  • 27. Es wird erwartet, dass der weltweite Markt rund um künstliche Intelligenz im Zeitraum von 2017 bis 2021 mit einer jährlichen Rate von rund 50 Prozent wächst. Quelle: Reuters, 8. Mai 2017, [https://www.reuters.com/brandfeatures/venture-capital/article?id=5423], letzter Zugriff am 29.12.2017.
  • 28. Berlant, S. 35
  • 29. Ebd.
  • 30. Vgl. Julian Barnes, The Noise of Time, New York: Random House 2016.
  • 31. Fredric Jameson, „Future City“, in: New Left Review 21, Mai/Juni 2003.

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