Molekulare Geschlechter und polymorphe Empfindsamkeit

Essay
07.02.2020

Molekulare Geschlechter und polymorphe Empfindsamkeit

Johanna Bruckners Text ist ein spekulativer Vorschlag für neue Arten von artenübergreifender Sexualität und Subjektivität, der uns über repressive Binaritäten hinausführen könnte. Er basiert ihrer im Rahmen der Gruppenausstellung The Eternal Network der transmediale 2020 ausgestellten Arbeit Molecular Sex. So wie das Quantencomputing eine neue Welt der Netzwerke verspricht, in der Einsen und Nullen koexistieren, zeigt Bruckners Kunstwerk einen fiktiven zukünftigen Sexbot, der sich scheinbar frei von einem Seinszustand in einen anderen verwandeln kann. In Anlehnung an ein Meerestier namens Schlangenstern ist dieser Bot ein Abbild sozialer, technologischer und biochemischer Verstrickungen, wie sie nach der Einflussnahme durch Phänomene wie Mikroplastik in (nicht-)menschlichen Netzwerken existieren. Anknüpfend an die Schriften von Karen Barad stellt das Projekt die Frage, wie die Molekularisierung und Unbestimmtheit des Seins heute queere und hybride Zukünfte beeinflussen könnte, die besser geeignet sind, mit aktuellen technologischen, politischen und ökologischen Veränderungen umzugehen. 

 

Paläontolog*innen würden die gegenwärtige Zeit vielleicht als Ergebnis eines gescheiterten Experiments mit Sex verstehen.1 Dieser Text schlägt vor, aktuelle Konzepte zur Molekularisierung des Körpers in einer möglichen Umverteilung der Empfindsamkeit zu lesen. Die Mobilität von Begehren und Wissen als Kapital, die Ausdehnung globaler Lieferketten, logistischer Datenverarbeitung, weltweiter Share-Ökonomien sowie Transformationen in Ökosystemen haben alle Auswirkungen auf menschliche Beziehungen im Rahmen der politischen Gestaltung der Welt. Diese neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnungen haben weitgehend von Fortschritten in der Molekularforschung, Hormon- und Libidinalbiologie, Virologie und von Sex/Design profitiert. Sie werten den menschlichen Körper – den molekularen Körper – auf und nutzen ihn als biochemisches und geopolitisches Material. Algorithmen dringen zunehmend in die Mikro- und Nanostrukturen unserer physischen, künstlichen und geschlechtlichen Körper ein, um Datensätze für die weitere wirtschaftliche und politische Anwendung zu erlangen. Zum Beispiel wird biologisches Material genutzt, um die genetische Manipulation von Geschlecht und Staatsbürgerschaft zu erkunden. Software und Forschung zur Herstellung von Genen ermöglichen die Kodierung biologischer Materialien und bilden eine Grundlage für die Erfindung neuer physischer und künstlicher Körper sowie die mögliche Performanz ihrer Sexualitäten. Die Vorstellung von Geschlecht ist eine des sexuellen Entwurfs – von Sex als Gestaltung. Des Weiteren formen Nanotechnologien und künstliche Intelligenz die menschliche Erfahrung des Vergnügens durch technische und biomedizinische Eingriffe, wie Roboter, die als Erotik-Partner fungieren, oder durch pharmazeutische Versuche, in denen Gefühle in ein technisch-sensorisches Produkt umgewandelt werden. Biologische Substanz wird in fließende Informationsnetzwerke übertragen und eröffnet neue Sphären des intellektuellen und molekularen Eigentums. Die chemischen Industrien haben die Begehren von Körpern in einem Ensemble sozialer Beziehungen verortet, in denen die libidinale Ökonomie dem Geschlechterentwurf des Biokapitalismus dient. In der „pharmapornographischen“ Ära verschmelzen Kapitalismus, Pornographie und Pharmaindustrie und bilden eine Kontrollgesellschaft, die infiltriert, penetriert und mutiert und unsere Begehren manipuliert – von der Ebene der Hormone bis zu allgegenwärtigen Medienbildern und Risikotechnologien.2 In zeitgenössischen ästhetischen Ökonomien wird Vergnügen zunehmend als fragiles und virtuelles Gefilde erfahren. Angesichts dieser technisch-sensorischen Modifizierung menschlichen Empfindens, ist der Körper stets der spekulativen Veränderung unterworfen.

Wie können diese Szenarien, in denen der Körper in eine chaotische und unvorhersehbare Welt geworfen wird, Situationen von molekular revolutionärem Potenzial darstellen, die womöglich die Neuordnung der gegenwärtigen Regimes von Sex/Design gestatten. Könnten sie neue Wege zu einer Mikropolitik der Empfindsamkeit eröffnen? Welche affektiv diffraktierten Zeitlichkeiten sind erforderlich, damit Körper sich jenseits der Grenzziehungen der Repräsentation orientieren können? Innerhalb welcher körperlicher Konzeptionen können sinnliche und energetische Kräfte in Beziehung zueinander gemeinsam existieren? Forschung zur Molekularisierung der menschlichen und künstlichen Existenz wird zu einer ethischen und politischen Angelegenheit. Fortschritte in der molekularen Forschung bieten einen Rahmen zur Neujustierung unserer verschränkten Beziehungen mit der empfindsamen Welt um uns. Durch die andauernde Beugung von und Bewegung unter und zwischen Mensch, Tier, Technologie, Sex und Atmosphäre formt das Molekulare eine Welt jenseits des Greifbaren. Es verschiebt die Grenzen des menschlichen Sensoriums und erfindet technologische Prothesen, die nun die Fähigkeit haben, empfindsame Beziehungen und die Muster, mit denen Subjekte die Welt verstehen, durcheinanderzubringen, neuzugestalten und umzuverteilen.

I.

Eingangs werde ich kurz aus Perspektive der Arbeit über das Molekulare nachdenken, da es in der Dialektik zwischen Akkumulation und Elend spezifische Autonomien konstituiert, die ich später im Licht von Karen Barads Werk genauer betrachte. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, entfernte sich das Konzept der Arbeit vom fordistischen Ethos der Produktion und orientierte sich an globalen Informations- und Finanznetzwerken sowie an Bereichen des Begehrens. Durch die folgende wirtschaftliche Neuorganisierung von Arbeit erhielten nun kognitive Arbeiter*innen ihren Wert in der semiotischen Produktion von Bedeutung. Viele Arbeitsplätze wurden flexibler und waren nicht mehr auf die Fabrik beschränkt. Von der Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit, Leben und Freizeit angeregt, führte die neoliberale Bestimmung über ästhetische Werte zur Bewertung von Begehren als Semiotik. Heutige post-fordistische Regimes der kognitiven Arbeit hängen von Technologien als Begehrensmaschinen ab, die affektive Erfahrungen als Arbeitssysteme produzieren.3 Betrachten wir diese Begehrensmaschinen in ihren molekularen operationalen Prozessen – als „Mikrophysik des Unbewussten“4–, erscheinen sie als affektive molekulare Gesamtmengen. Abhängig von ihrer kognitiven Arbeit, ihrem viralen Wirt, stimulieren sie die Konstitution gesellschaftlicher Gefüge und abstrakter Verbindungen. Wenn wir also den Prozess des Affiziertseins durch Technologie nicht als eine aneignende Strategie, sondern vielmehr als einen metamorphen Virus sehen, dann kann die Maschine sowie unsere Beziehung zu ihr ein katalysierender Motor sein. Wir könnten durch die potenzielle Unbestimmtheit des Affekts von der kapitalistischen Gewinnung und Ausbeutung unserer Begehren loskommen.

II.

Vor diesem Hintergrund der Transformation der Welt durch molekulare Körper und ihre Intimitäten, zeigt meine Videoinstallation Molecular Sex (2020) einen Sexroboter – zur Befreiung der normativen technisch geleiteten Weltsichten auf Intimbeziehungen. Ich entschied mich für die Darstellung eines Sexbots wegen der Parallelen zwischen Ausführungen von Queerness und der materiellen Performance von Kunststoff. Mich interessieren die Verknüpfungen zwischen Sex, Plastik und Nicht-Reproduktion. Gegenstände des sexuellen Begehrens sind chemisch mit eben jenem Kunststoff verbunden, der in seiner molekularen Textur geschlechtliche und sexuelle Indifferenzen ermöglicht. Plastik trägt seine Queerness in den Sex, indem es sexuelle Reproduktion unterbinden kann. Geschlechtliche Differenz wird sich womöglich als zukunftslos erweisen, da Kunststoff eine Form des Werdens widerspiegelt, die auf technologischem und bakteriellem Zusammenfluss beruht, statt auf der Reproduktionsfähigkeit organischer Wesen.5 Plastik aktualisiert eine queere, technisch-bakterielle Zukunft, da die Textur von Plastik entsprechend der Logik der Streuung und polymorphen Akkumulation funktioniert. Es ist weniger eine Substanz als die Antithese einer Substanz; ein Paradigma, in dem Substanz in eine Seinsweise ohne eine stabile Präsenz oder Bedeutung transformiert wird.6

Die Plastikteile des Sexbots setzen sich aus einer Reihe von Chemikalien zusammen, die in prekären vielschichtigen Prozessen, vornehmlich in China, hergestellt werden. Zusätzlich zu den Molekülen, die als Plastik bezeichnet werden, werden für die Biegsamkeit, Farbe oder Hitzebeständigkeit Weichmacher hinzugefügt. Am berüchtigsten ist Bisphenol A (BPA), eine jener Chemikalien, die dafür verrufen sind, giftig für die Reproduktionsfähigkeit zu sein. BPA blockiert die menschliche Reproduktionsfähigkeit durch eine Überaussetzung mit Östrogen sowie durch endokrine Disruptoren (hormonaktive Substanzen), die Hormone im Körper vortäuschen und mit ihren Funktionen interferieren. Das hat manchmal den Effekt, dass das Geschlecht des Körpers, in den die Chemikalie eingedrungen ist, einen queeren Wandel erfährt. Solche Chemikalien sind im Allgemeinen nicht wahrnehmbar, können aber drastische Auswirkungen auf unsere Körper und die anderer Arten haben. Zudem hält das Mikroplastik – zahlreiche Arten, die langsam aber irreversibel die Umwelt verändern – der Welt den Spiegel vor. Komplexen bakterielle Maschenwerke infiltrieren synthetische Oberflächen, reproduzieren und zerstören einander, mutieren und entwickeln sich zu neuen Organismen, die von den Energiequellen abhängig sind, die vom Kohlenstoff freigesetzt werden. Die reproduktiven Systeme vieler Wesen ermöglichen es ihnen, ihr Geschlecht zu verändern oder sich durch Zellteilung fortzupflanzen. Das menschliche Streben nach fremdartigen, synthetischen Vergnügen gebiert unabsichtlich queere neue Welten.7

Der Sexbot in Molecular Sex fungiert als Prothese, um Körperteile zu trennen und neu zu verbinden, die systematisch in der virtuellen Welt kursieren. Er löst sich in die Atmosphären auf, die ihn umgeben, und nutzt diese Körperteile, um ein- und auszuatmen und um mehrere Figuren in dem Video zu aktivieren. Während der Arbeit erlernt der Roboter seine/ihre Existenz als technoides „trans/materiales“ und „tranimalisches“ Wesen8  und verändert dadurch die bestehenden Prinzipien des Vergnügens. Zuerst performt er/sie als und mit einem Schlangenstern9, einem gehirnlosen Tiefseetier, dessen Körper ein formwandelndes optisches und sensorisches System ist. Als zweites performt er als Wolbachia-Bakterium sowie als dessen Wirt. Das Bakterium verzerrt Liebesspiel und Geschlecht, seine Körperflüssigkeiten sammeln sich zu einer Art intelligenter Bombe der zufälligen Artbildung. Als drittes interagiert er mit intergeschlechtlichen Menschen, da die molekulare Genforschung festgestellt hat, dass die Geschlechtsbestimmung künftig eine Vielzahl geschlechtlicher Variationen und Praktiken umfasst, statt einer binären Struktur. Die Plastikfigurationen des Sexbots erschaffen durchdringbare Wesen, die nicht wahrnehmbar aber unwiderruflich unsere Umwelt verändern.

Lasst uns diese drei Szenarien näher betrachten. In einem Szenario spielt der Sexbot einen Schlangenstern. Dieser ist ein Körper, dessen Morphologie – und zwar seine ineinander verschlungenen Skelett- und diffusen Nervensysteme – ein Visualisierungssystem bildet, da seine Oberhaut gänzlich aus Mikrolinsen besteht. Bei diesem Tier ohne Gehirn fallen hier Sein und Wissen, Materialität, Intelligibilität, Substanz und Form ineinander. Wenn ein Schlangenstern gefangen zu werden droht, wirft er das bedrohte Körperteil ab und lässt es nachwachsen. Während dieses Prozesses, regeneriert und autonomisiert er seine Optik und andere Sinnesempfindungen und arbeitet ständig seine Geometrie, Topologie und Körpergrenzen um. Bei seiner materiell verfügten Leiblichkeit, geht es nicht darum, auf spezifische Weise in der Welt situiert zu sein, sondern vielmehr von der Welt zu sein – in all ihrer dynamischen Besonderheit.10

Schlangensternarten zeigen auch eine große Vielfalt in ihrem geschlechtlichen und reproduktiven Verhalten – sei es das Freilaichen oder der Geschlechtsdimorphismus, um nur zwei Beispiele zu nennen. Manche sind mehrgeschlechtlich und befruchten sich selbst, während andere sich asexuell fortpflanzen, indem sie sich selbst aus zerteilten Körperteilen neu erzeugen oder klonen.11

Schlangensterne sind lebendige Nanotechnologie. Ihre technische und sinnliche Morphologie, die es ihnen ermöglicht, zu atmen und sich selbst zu reparieren, wird nun von Unternehmen als Vorlage genutzt: für neue Software- und Rechenfunktionen, für Entwürfe in den Bereichen der Logistik und Lebenswissenschaften sowie für Telekommunikation, optische Netzwerke und künstliche Vergnügungsmaschinen, die auf chemosensorisches Erfahren abzielen.12 Die Frage ist nun nicht nur, wie diese queeren, nichtmenschlichen Tiere für politisch-menschliche und technische Interessen angeeignet werden können, die Lebensformen unbekannter, willkürlicher Orientierungen Form verleihen; sondern auch, wie unsere Begehren einander wechselseitig konstituieren und gestalten. In dem Video werden die Intimitäten des Sexbots als Diffraktionsmuster berechnet. Doch jenseits von potenziellen Computersoftwareanwendungen hat unsere Ausrichtung an der Intra-Aktion der Schlangensterne am meisten Bedeutung durch die queere Unterwanderung unseres Verständnisses von und unsere Teilnahme an vernetzten Wirklichkeiten und technologischer Transformation, in der wir uns in Richtung verschränkter Formen der wechselseitig wirkenden Partizipation bewegen.

Im zweiten Szenario performt der Bot als Wolbachia-Bakterium und in Beziehung dazu. Diese zähen Bakterien existieren und lieben auf Weisen, die sich weder vom Klimawandel noch von einem Nuklearkrieg stören lassen. Liebe unter Wolbachia-Bakterien entwickelt sich häufig in Form temporärer Bündnisse und symbiotischer Anhaftungen – Verbindungen, die sich wie ein Rhizom zwischen den verschiedenen Zielkörpern mehrerer Spezies und unabhängig von deren Geschlecht einrichten. Die queeren Verwandtschaftspraktiken der Wolbachia evolvieren, indem sie in Schwärmen aus Vielheiten zu Molekülen werden, mit Elementen der Körper, die zu anderen werden und sie überschreiten. Wolbachia tauschen mit verschiedenen Arten Gene aus, verwischen die Grenzen zwischen Selbst und Anderem. Sie sterilisieren die arglosen Sexualpartner ihrer wirbellosen Wirte und bringen ihnen reproduktive Isolation und die Bedingungen für neue Artbildung. Sie können in den Wirtskörpern Geschlechter verändern und beispielsweise genetische Männchen zu reproduktionsfähigen Weibchen machen, indem sie das Zellplasma der Spermien verändern. Die Spermien von Wolbachia-infizierten Männchen wird zu einer Waffe – zu dem, was ich oben als ‚intelligente Bombe‘ bezeichnete. Um die Bedingungen ihrer eigenen Artbildung zu versichern, zerstören diese Spermien die Eier von nicht-infizierten Weibchen und führen so zu neuen Kreuzungen zufällig vergeschlechtlichter Wesen. Als mikro-biopolitische Wirkinstanzen bringen diese Bakterien die Körper ihrer Wirte auf einer molekularen Ebene durcheinander. In diesem Kontext haben biomedizinische Initiativen biopolitische Strategien verstärkt, indem sie potenzielle Mensch-Mikroben-Zusammenarbeiten für zukünftige technologische Anliegen im Feld der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten erkunden.13

In einem weiteren Szenario begegnen die im Video entstehenden Sexbot-Gestaltungen einer intergeschlechtlichen Person. Anstelle von einem einfachen Satz Geschlechtschromosomen – üblicherweise XX oder XY – gebe es zukünftig Dutzende von geschlechtsrelevanten Genen. Molekulare Genetik erfordert also voraussichtlich eine Verschiebung vom binären Geschlecht zum Quantengeschlecht mit einem Dutzend oder mehr Genen, die alle eine kleine Wahrscheinlichkeit zu weiblicher oder männlicher Vergeschlechtlichung erteilen; deren weitere Entwicklung und Ausgestaltung dann von Mikro- und Makrointeraktionen mit der Umgebung abhängen. Die Formen von Geschlechtern und Sexualitäten, die aus dieser Quantenwolke des biologischen und ökologischen Fortschritts hervorgehen können, sind noch spekulativ.14

III.

Um die Körperlichkeit von Technologie, Materie und Begehren besser zu verstehen, die diesem Text zugrunde liegt, möchte ich kurz Karen Barads Untersuchungen der Quantenfeldtheorie in Betracht nehmen. Barad beschreibt die Untrennbarkeit von Welt und Objekt als ‚Intra-Aktion‘ und konzipiert die Wirklichkeit als ein Kontinuum intra-agierender Quantenverschränkungen.15 Sie legt nahe, dass Materie durch Selbstberührung charakterisiert ist – durch die Interaktion der Teilchen mit dem umgebenden elektromagnetischen Feld, das sie unendlich zerstören und wieder erzeugen.16 Berühren und Erfahren werden also als das Wesentliche erachtet, was Materie ausmacht. In dieser Hinsicht steht Empfindsamkeit in steter Intra-Aktion mit sich selbst und queert, stört und verhindert Zuneigung und die affektive Maschine. Dieses Verständnis von der Unbestimmtheit der Maschine und vom Selbst als Vielheit ist für Barad eine „Superposition“ – eine Intensivierung von Materie jenseits eines Ordnungssystems. Um die Wirkmacht von Materie auf Mikroebene zu verstehen, führt Barad das Konzept der „agentischen Trennbarkeit“ ein.17 Materialien werden in Verbindung mit affektiven Kräften unterschieden, die Objekt-Mensch-Beziehung wird in einem Prozess der steten Beugung und Brechung aufrechterhalten. Es ist agentische Trennbarkeit, also die agentisch in Kraft gesetzte materielle Bedingung von Phänomenen, die Materie von innen heraus formt und umformt. In jeder gegebenen Situation gibt es in der Objekt-Mensch-Beziehung Wirkmacht auf der Mikroebene kleinsten Maßstabs, die – wenn sie auf größerem Maßstab intensiviert wird, zu mikro-revolutionären Kristallisationen führt18 Barad folgend, könnten wir diese radikalen molekularen Kristallisationen, die auf molekularer Ebene unter Materieteilchen stattfinden, als „Phänomene“ verstehen, die „nicht in Raum und Zeit lokalisiert [sind]; vielmehr sind Phänomene durch die Raumzeitmaterialisierung des Universums eingefaltete und durchwirkte materielle Verschränkungen“.19 Plastik ist nicht biologisch abbaubar; es zerfällt und wird kleiner und kleiner, der Kunststoff bleibt aber in seinem Wesen ganz und hat Auswirkungen auf die Welt. Diese agentischen Schnitte, die mikro-revolutionären Formationen, eröffnen situative Reaktionsmöglichkeiten, die tatsächlich zu Verantwortlichkeiten in jeder einzelnen Teilchenkonstellation befähigen. Eine mikro-revolutionäre Praxis setzt also mehrfache Akte werdender Verantwortlich-/Verantwortbarkeiten voraus. Materie – oder, um genauer zu sein, unsere Beziehung zu unseren affektiven Maschinen und Substanzen – kristallisiert eine Verdichtung der Fähigkeit, zu reagieren, zu antworten.

Allgemeiner formuliert, sind Körper und ihre gesellschaftlichen Beziehungen von vor-symbolischen oder nichtmenschlichen Kräften strukturiert – Kräften, die als konkurrierende Mikro-Wirkungsvermögen konstuiert sind. Diese Subjekte sind Körper aus Vielheit, da sie durch Raum, Zeit und Wirklichkeiten gebeugt sind. Ihre Verkörperung ist ihre situative Einbettung in der Umwelt, als eine verkörperte Wahrnehmung.

Die Installation zieht die Möglichkeit einer Zukünftigkeit in Betracht, in der das Eins-Werden mit Tieren und technischen Gegenständen eine kollektive Teilhabe an außernatürlicher Wirkmächtigkeit bedeutet. Heutige sinnlich-technoide Körper – ein Körper, in dem die Grenzen zwischen Mensch und Maschine immer schon verschoben sind und der Sexbots und ihre künstlichen Intelligenzen umfasst – können als „materiell implodierte Entitäten“ verstanden werden, als „verdichtete materiell-semiotische ‚Dinge‘“, „im Dazwischen“ und nicht lokalisierbar.20 Doch geht es dieser Cyborg-Puppe nicht darum, die Grenzen zwischen Mensch und Nichtmensch zu verwischen, sondern die materialisierenden Effekte dessen zu verstehen, wie Grenzen zwischen ‚Menschen‘ und ‚Nichtmenschen‘ gezogen werden.21 Ihr Zustand der Unbestimmbarkeit wohnt der Bildung neuer Zeitlichkeiten und Begehrensbereiche inne, in denen neue Subjekte der Verschränkung entstehen.

IV.

Sogar wenn das Molekulare als Rohmaterial ausgebeutet wird, kann es noch eine verfügbare Ressource für Widerstand sein. Der Schlangenstern, Wolbachia und die Plastifizierung der Welt bieten Beispiele, in denen die revolutionäre Unmittelbarkeit der molekularen Wirkmacht als wesentlicher Teil des nicht/menschlichen Bereichs von Zellen und Körpern beobachtet werden kann. In Untersuchungen von Zellverhalten erscheinen Stoffwechselnetzwerke, Maschenwerke und Proteinfaltung als spekulative, materiell verfügte Prozesse, da sie nicht jenseits ihrer Beziehung zu Materie existieren. Überdies befindet sich das Regime der finanziellen Inwertsetzung durch Biosicherheit in einer instabilen Sachlage, da es beinahe unmöglich ist, eine nicht spezifizierbare Zukünftigkeit im molekularen Bereich der ökonomischen Berechnung zu erfinden. In Barads Ansätzen an die Fähigkeit von Materie zu ihrer eigenen Mikro-Wirkmächtigkeit, ist das Virtuelle unkalkulierbar. Vielmehr bietet die Vielheit molekularer körperlicher Materialien – als empfindsame Relationalitäten – Raum für die Ausbreitung alternativen Körperwissens, für das Aufkommen neuer Forderungen an Staats- und privatwirtschaftliche Organe durch die Kollektivierung semiotisch-empfindsamer Köpfe. Was heutige Kopfarbeiter*innen angeht, ist das biologische Selbst ein gefährlich nacktes Wesen. Von zentraler Wichtigkeit sind die subontologischen Bereiche, in denen Konfrontation und Kämpfe außerhalb des Feldes des Erkennbaren und somit jenseits von Repräsentation selbst stattfinden. Beispielsweise setzen Praktiken, die an molekularen Prozessen der kollektiven Verschiebung [undercommoning] ausgerichtet sind, die Welt als etwas, das noch entsteht, wobei die Gegenwart als ein offenes Feld der politischen Beteiligung erhalten wird.22 Diese molekulare Territorialisierung kann sich nun nicht nur auf chemische und genetische Prozesse beziehen, sondern auch auf menschliche Körper, politische Gruppierungen und Gefüge: „Moleküle territorialisieren und deterritorialisieren, indem sie immer neue Gruppierungen bilden und sich dann in neue Möglichkeiten“ der menschlichen, gesellschaftlichen und abstrakten Verbundenheiten „verzweigen“.23 Die aufkommenden molekularen Zeitlichkeiten, erzeugen – spekulativ betrachtet – eine eigene diskontinuierliche Geschichte und Gegenwart24 Die fortwährende materielle Zusammensetzung von Empfindsamkeit als eine Reihe molekularer, intra-aktiver Muster repräsentiert queere Ökologien. Denn in seiner inhärent widerständigen Beschaffenheit und durch seine zufällige Gestaltung, wird das Molekulare zu einer Abstraktion. Diese Moleküle des Begehrens werden zur Gelegenheit für eine polymorphe Antizipation und verkörperte Mikro-Wirkmacht des Empfindsamen. Dieser Prozess der desaffizierten Arbeit, durch die Moleküle ihre Wirkmacht erschaffen, zerschneiden, auftrennen und wieder verschränken, ist selbst ein Gefüge der mikro-revolutionären Kristallisation, deren Intensivierungen technisch-menschliche Körper als komplexe „Teilchen der Möglichkeit“ entwerfen.25Unsere technologischen Maschinen konstituieren uns in Beziehung zu der Materie, die uns umgibt. Die Politik des Begehrens dreht sich im Wesentlichen um diese Gefüge aus „Teilchen der Möglichkeit“, die sich aus abstrakten Maschinen zusammensetzen.26

V.

Schließlich zielt der in meiner Arbeit vorgestellte Sexbot darauf ab, die zugrundeliegenden Wirkungs- und Handlungsvermögen auf Mikro-Ebene an die Oberfläche zu bringen. Sie werden in der technisch-maschinellen Beziehung zwischen Körper, Begehren und Materie verstärkt und konstituieren die Vielheit gefährdeter Körper, deren „molekulare Freude“ den Rohstoff für intim-kognitiven Kapitalismus darstellt. Dadurch legt diese Arbeit nahe, dass wir dringend unsere Cyborg-Politik verfeinern, Vergnügen an der „Verwirrung von Grenzen“ haben und „für Verantwortung in deren Konstruktion“ argumentieren sollten.27 Die in Sexbots integrierte künstliche Intelligenz speichert Information im Körper des Bots, durch die er lernt, als eine zufällige, molekulare, intra-partizipatorische sexuelle Spezies zu agieren. Dieses Training basiert auf Datensätzen, die intra-aktiv Datenlandschaften des Vergnügens erzeugen, die wiederum mit bestehenden Berechnungsinfrastrukturen verknüpft und in ihnen verortet sind, wobei auch computerisierter Zugang und Verbindung neudefiniert werden. Anstatt die Permanenz von Daten zu stärken, fördern diese aufkommenden Datenlandschaften Polygamie, Vielförmigkeit und Zufälligkeit. Der Code eröffnet Netzwerke des bislang unbekannten sinnlichen, affektiven Wissens: ein unendlicher Rückkopplungsknoten in der sym-poetischen Verschränkung von Körper, Sex und Technologie, hin zu einem vielrhythmischen Cyberspace. Als ein mikropolitischer Virus infiltriert der physische und künstliche Körper die Konfiguration und Leistung anderer technischer Maschinen und ihrer Beziehungen. Seine Wirkmacht sollte nicht nur durch sein Erscheinen als virtuelles Vergnügen erkannt werden, sondern durch seine Fähigkeit, die Prozesse der Übertragung, des Streamings, Herunterladens, Speicherns, Teilens und Konsums umzuverteilen und anzufechten.

Mein Ausgangsprinzip für diese Arbeit war die Vorstellung, dass die Konzepte von Körpern und Wirklichkeiten, die künstlicher Intelligenz und solchen neuen Technologien innewohnen, tief in heteronormativen, rassistischen, kolonialen Weltbildern verwurzelt sind: Wir müssen die Determinierung von, den Zugang zu, und unsere Teilhabe an diesen Szenarios beunruhigen. Die Menschheit muss aktiv in die Unordnung biologischen Lebens aller Maßstäbe intervenieren, um Zeitlichkeiten der kollektiv begehrten Verschränkung zu produzieren. Was können wir von Plastik lernen, um angesichts der beschleunigten Formen von biologischem, klimatischem, geologischem, gesellschaftlichem und technologischem Wandel, von Tod und Ungleichheit politische Resilienz zu schaffen? Als ein Ergebnis ihrer molekularen Grundlage in Öl versammeln Kunststoffe giftige Potenz, während sie sich durch die Welt und unsere molekularen Körper bewegen.28 Mir scheint es, als sei das dringlichste Erfordernis der Menschheit eine politische Ordnung, die den körperlichen, technowissenschaftlichen Praktiken entspricht; die nicht von Gesetz, Eigentum und Nation beschränkt wird, sondern offen ist für ein ethisches Spiel jenseits der gegenwärtigen Aneignung von Leben in das geopolitische biologische Dispositiv. Im Erhalt von Zufluchtsorten und Räumen für undisziplinierte, wilde und widerspenstige Formen von Leben und Wissen sollten auch Orte enthalten sein, wo auch invertierte und technisch-queere Mikroben und Lebensformen ein Zuhause finden.29 Wir müssen darauf vorbereitet sein, unwahrscheinliche Verbündete zu akzeptieren, und anerkennen, dass unsere Kämpfe wechselseitig sind oder sich zumindest gegen gemeinsame Feinde richten: die zunehmende Liberalisierung von Märkten, Austeritätsmaßnahmen und Extraktivismus. Eine kritische Ethik der Gegenwart umfasst im Wesentlichen das Finden von Strategien, um mit Giftigkeit zu leben und akzeptiert sie gar als eine queere Zukunft; sowie Wege, um Schrecken zu navigieren, während Politiken, Regierungen und Unternehmen entgegengewirkt wird, die verhindern, dass neue und fremde Lebensformen aufkommen.30 Tatsächlich existiert noch keine Ökonomie der Technologie-geführten Transformationen in polymorphen Begehren und reproduktiver Arbeit. Es liegt an uns, Systeme zu schaffen, in denen künftige libidinale Ordnungen einen Platz finden können, um nicht/menschliche Netzwerke als queere Verwandtschaften und gemeinsame Zeitlichkeiten zu bestätigen.

Übersetzung von Jen Theodor und Johanna Bruckner.

Dieser Text ist Teil der Publikation The Eternal Network – The Ends and Becomings of Network Culture. Hier kannst du sie bestellen oder als kostenfreies PDF herunterladen. 

  • 1. Eben Kirksey, „Queer Love, Gender Bending Bacteria, and Life after the Anthropocene“, Theory, Culture, and Society (3. Juni 2018): 197-219, S. 205.
  • 2. Paul Preciado, Testo Junkie: Sex, Drugs, and Biopolitics in the Pharmacopornographic Era, New York: The Feminist Press at CUNY, 2013, S. 1.
  • 3. Ich verstehe Maschinen als technischen Rahmen, der uns umgibt, sowie in Anlehnung an Félix Guattaris „Sys-teme der semiotischen Beziehungen“, in Molecular Revolution, Psychiatry and Politics, London: Penguin, 1984.
  • 4. Félix Guattari und Gilles Deleuze, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhr-kamp, 1974 (1972), S. 235.
  • 5. Claire Colebrook, „Sexual Indifference“, in Tom Cohen (Hg.) Telemorphosis: Theory in the Era of Climate Change, Band 1, Ann Arbor: MPublishing/Open Humanities Press, 2012, S. 167-182, S. 177.
  • 6. Heather Davis, „Imperceptibility and Accumulation: Political Strategies of Plastic“, Camera Obscura 92, 32.2 (2016): S. 186-193, S. 188.
  • 7. Davis, „Imperceptibility and Accumulation“.
  • 8. Kelley und Hayward, „Carnal Light: Following the White Rabbit“, parallax 19.1 (2010): S. 114-127; zitiert in Kirksey, „Queer Love“, S. 6f.
  • 9. A.d.Ü. Der Schlangenstern wird auf Englisch brittle star genannt; brittle bedeutet auch sprö-de/bröselig/vergänglich/zerbrechlich.
  • 10. Karen Barad, „Invertebrate Visions: Diffractions of the Brittlestar“, in Eben Kirksey (Hg.) The Multispecies Salon, Durham: Duke University Press, 2014, S. 221-236.
  • 11. Ebd.
  • 12. Ebd.
  • 13. Kirksey, „Queer Love“, S. 4ff.; Donna Haraway, Unruhig bleiben – Die Verwandtschaft der Arten im Chthulu-zän, aus dem Englischen von Karin Harrasser, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2018, S. 125-126.
  • 14. Vernon A. Rosario, Quantum Sex: Intersex and the Molecular Deconstruction of Sex, Durham: Duke University Press, 2009.
  • 15. Karen Barad, „Dis/kontinuitäten, RaumZeit-Einfaltungen und kommende Gerechtigkeit. Quantenverschränkun-gen und hantologische Erbschaftsbeziehungen“, in dies. Verschränkungen, Berlin: Merve, 2015, S. 71-114, S. 80ff.; Haraway, Die Neuerfindung der Natur.
  • 16. Karen Barad, „Berühren – das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1)“, in Kerstin Stakemeier und Susanne Witzgall (Hg.) Macht des Materials – Politik der Materialität, Berlin: diaphanes, 2014, S. 163-176.
  • 17. Karen Barad, „Diffracting Diffraction: Cutting Together-Apart“, Parallax, 20:3, 2014, S. 168-187, S. 176.
  • 18. Guattari, Molecular Revolution, S. 9.
  • 19. Karen Barad, „Dis/kontinuitäten, RaumZeit-Einfaltungen und kommende Gerechtigkeit. Quantenverschränkun-gen und hantologische Erbschaftsbeziehungen“, in dies. Verschränkungen, Berlin: Merve, 2015, S. 71-114, S. 103.
  • 20. Donna Haraway, „Überschwemmt von Urin. DES und Premarin in artenübergreifender Responsabilität“, in Unruhig bleiben, S. 129ff.
  • 21. Karen Barad, „Die queere Performativität der Natur“, in dies. Verschränkungen, Berlin: Merve, 2015, S. 115-171, S. 127-129.
  • 22. Meine Verwendung von ‚undercommoning‘ bezieht sich auf Stefano Harney und Fred Moten, The Undercom-mons. Fugitive Planning and Black Study, New York: Autonomedia, 2013.
  • 23. Jordana Rosenberg bezieht sich in „The Molecularization of Sexuality: On Some Primitivisms of the Present“ (Theory & Event 17.2 (2014), S. 15; https://www.muse.jhu.edu/article/546470) auf Gilles Deleuze und Félix Guattari, A Thousand Plateaus, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987.
  • 24. Rosenberg, „The Molecularization of Sexuality“.
  • 25. Guattari, Molecular Revolution, S. 5.
  • 26. Ebd.
  • 27. Haraway, Die Neuerfindung der Natur; Kirksey, „Queer Love”, S. 18.
  • 28. Davis, „Imperceptibility and Accumulation“, S. 189.
  • 29. Kirksey, „Queer Love”, S. 18.
  • 30. Davis, „Imperceptibility and Accumulation“, S. 191.

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