Fernsehen und Video - Katz und Maus. Von Jean-Marie Duhard

03.03.2017

Fernsehen und Video - Katz und Maus. Von Jean-Marie Duhard

Das Verhältnis von Fernsehen und Video erinnert mich immer an das bekannte Kinderspiel von Katz und Maus mit seinen Regeln, seinen Gesetzen und all den davon möglichen Abweichungen. Seit der Markteinführung leichter Videoausrüstungen (das Porta-pack von Sony) gegen Ende der sechziger Jahre wird die Verwechslung eines Ausstrahlungsträgers mit einer Reproduk- tions- und Konservierungstechnik gepflegt. Das Fernsehen macht Video und das Video macht Fernsehen. Mit anderen Worten: das Fernsehen benutzt die Magnetbandtechnik, welche man Video nennt, und das Video verwendet den Übertragungskanal Fernsehen zu seiner Verbreitung. Tatsächlich kann man sich in einer Hinsicht mit dieser Überlegung begnügen, andererseits ist alles viel komplizierter und geradezu pervers. Von Anfang an macht das Fern
sehen nur Fernsehen. Einzig Jean-Christophe Averty hat aus diesem Ding ein wirkliches Ausdrucksmittei machen wollen: "Ich hatte geglaubt, ein Tor zu öffnen, wodurch das gesamte Fernsehen hätte eintreten können, und bin jetzt der einzige Held eines verlorenen Kampfes." Lauthals konstatiert er: "Im Grunde hat das Fernsehen als technische Einrichtung einen rapiden Fortschritt durchgemacht, als Ausdrucksmittei hingegen ist es fürchterlich rückständig", und weiter: "Es ist denkbar, daß die Fernsehmöbel nicht für Programme konzipiert worden sind, sondern um Hintergrundbilder zu liefern, ein Hintergrundgeräusch, das man nicht beachtet". In den Siebzigern ist Video als Alternative erschienen, die es erlaubte, auf das Fernsehen zu antworten. Nam June Paik sagt: "Das Fernsehen attackier
te jeden Moment unseres Lebens, jetzt können wir den Gegenschlag führen." Und so griff er an, mit besonderen Fernsehprogrammen, Installationen und Videoenvironments unter Verwendung von Fernsehgeräten, die er für die Station WGBH, Boston (USA), produzierte, ein Sender unter der Verantwortung von Fred Barseyk. Die Debatte wird also nicht um den Behälter, sondern um den Inhalt geführt. Es ist eine Grundsatz-, eine Sinndebatte. Nur die Terminologie, das Wort "Video", verwirrt und verhindert es, die Unterscheidung zu treffen. Inwiefern ist das, was ich im Fernsehen sehe, anders als Video? Für den sogenannten "normalen Zuschauer" besteht Video aus Tricks, Spezialeffekten, und der Möglichkeit, selber Bilder zu machen, beziehungsweise sie mit VHS aufzuzeichnen. Zusätzlich stellt sich anhand des Verhältnisses von Fernsehen und Video die Frage nach dem Status eines Videokünstlers oder Fernsehregisseurs. Ein Künstler sagt: "Ich mache Videos." Ein Fernsehregisseur sagt: "Ich mache Fernsehen," Und wie soll das Publikum den Unterschied begreifen? Es muß sich mit diesen Aussagen behelfen. Die häutigen Videomacher zahlen eine hohen Preis für diese Verwirrung, denn nach 25 Jahren sind sie immer noch unverstanden oder nicht anerkannt und versuchen vergeblich, in eine Institution einzudringen, die sie als Rivalen ansieht, ihnen Haus- friedensbruch unterstellt und Angst hat, ihre Macht zu verlieren, wenn sie ihnen die Türen öffnet, Wir haben es auch mit einem intellektuellen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Krieg zu tun, in dem es praktisch unmöglich ist, seine künstlerische Unversehrtheit zu bewahren. Beim Fernsehen muß man sich darauf beschränken, Realisator, also Programmzuschneider, zu sein. In Frankreich haben die Beziehungen von Video und Fernsehen wirklich 1980 begonnen - wenn man von Jean-Christophe Averty absieht, der bereits in den Sechzigern Video als eigenständiges Ausdrucksmittel betrachtete - durch Catherine Ikams Serie von Videosendungen in einem öffentlichen Sender. Diese Sendungen enthielten viele angekaufte Bänder und einige Repor- tagen/lnterviews. Unglücklicherweise dauerte dieser Durchbruch nur einige Monate. Die Wandlung der audiovisuellen Landschaft fällt in jeder Hinsicht mit dem politischen Umbruch von 1981 und der Regierungsübernahme durch die Sozialisten zusammen. Das Kultusministerium unter der Leitung von Jack Lang verfolgte an allen Fronten eine Politik der Unterstützung und Anregung der audiovisuellen Produktion. Jede Abteilung des Kultusministeriums (Bildende Künste, Tanz, Musik, Theater, Literatur...) erhielt ein Sonderbudget zur Subventionierung künstlerischer und unabhängiger Produktionen. Die Chancen, derart unterstützt zu werden, vergrößern sich, wenn die Produktion eine Ankauf- oder Koproduktionszusage eines Fernsehsenders - und damit eine Option der Ausstrahlung erhält. Im gleichen Zeitraum etablierte das Centre National du Cinéma, das direkt vom Kultusministerium abhängt, ebenfalls einen Fonds zur Förderung der AV-lndustrie mit dem Ziel, die Schaffung neuer künstlerischer Ausdrucksformen zu fördern. Es wurden Subventionen vergeben, die bis zu 10% des Produktionsbudgets umfassen konnten, wenn das Werk im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Einige Jahre später wurde dieses System durch ein Unterstützungskonto ersetzt und lief mif zwei Varianten: eine "selektiv" und eine "automatisch" genannt. Für Zuschüsse aus dem selekti-ven Konto müssen alle Projekte von einer Kommission begutach-tet werden. Das automatische Konto wird vom Produzenten selbst verwaltet. Wenn er mehrere Male die selektive Unterstüt zung erhalten hat und die Produktionen im Fernsehen gelaufen sind, schafft er sich eine Art Dividenden- oder Punktekonto, das er nach Belie-ben für eine andere Produktion abrufen kann. In der Folge rich-tete diese Institution 1986 eine Abteilung zur konsequenten Hilfe für neue Technologien ein, in erster Linie zur Entwicklung von Computerprogrammen, jedoch auch zur Förderung von Experimenten aller Art, wie etwa im Falle von "Vidéopérette" von Michel Jaffrennou. Um die Konfrontation, die Vielfalt und den Erfindungsreichtum anzustacheln, richtete das Kultusministerium eine Agentur mit Namen "Octet" ein: Sie verfolgte eine Politik der Wettbewerbe und Stipendien zu kulturellen Themen und produzierte gleichzeitig eine regelmäßige Sendung auf einem öffentlichen Fernsehsender (FR3), um den Fernsehzuschauern Einblick in diese Untersuchungen zu ermöglichen. Unglücklicherweise wurde die Sendung nur sechs Monate lang gezeigt Die Gründung von Canal+ im November 1984 wirkte wie eine Sauerstoffdusche für viele Video- künsfler und die unabhängige Produktion. Da Canal+ durch keinerlei Abkommen an die berufsständischen Usancen gebunden war, konnte der Sender frei entscheiden, einem jungen Künstler oder Regisseur ein Thema oder eine Sendung anzuvertrauen. (In der Vergangenheit mußte man Inhaber eines Berufsausweises sein, um für das französische Fernsehen arbeiten zu dürfen. Ohne diesen Ausweis war es völlig ausgeschlossen, irgend etwas zu realisieren. Heute verlangt ihn nur noch das öffentliche Fernsehen; Ausnahmegenehmigungen sind zu erhalten,) Ein ernstgemeinter Wille zur Produktion und Ausstrahlung von Videos im Fernsehen zeichnete sich jedoch erst 1986 ab. Ca- nal+ war die erste Fernsehsta-ti- on der Welt, die eine Abteilung für "Kurzprogramme" einrichtete. Von Anfang an verfolgt diese, von Alain Burosse geleitete Einrichtung eine Politik zur Verteidigung aller Arten von "vidéo création". Die Mannschaft der Abteilung für Kurzprogramme finanziert Videos ebenso wie synthetische Bilder, HDTV-Projekte oder graphische Kreationen, und verhütt so ihrem Sender zu einem einzigartigen Image: "Kreations- Canal+" oder "Canal+, der Sender mit anderen Bildern". Gleichzeitig hat dieser Wettstreit die Gründung einer großen Zahl von Produktionsfirmen ermöglicht. Die Künstler finden in diesen jungen und engagierten Produzenten unverhofft die so sehr er-sehnten Verbündeten. Man darf nicht vergessen, daß wir uns mitten in einer technologischen Umbruchphase befinden, und die Leistungsanbieter einige der Künstler als "Maschinentester" sehen, und deshalb nicht zögern, sich aktiv an Koproduktionen zu beteiligen indem sie die Künstler in Zeiten schwacher Auslastung, besonders nachts, frei mit ihren Ausrüstungen experimentieren lassen. Ehrlicherweise muß man zugeben, daß ohne kostenlosen Zugang zu einigen wenigen Nachbearbeitungsbetrieben ein großer Teil der wichtigen französischen Werke der letzten Jahre niemals entstanden wäre - kein Budget finanzierte sie vollständig, Regelmäßige Ausstrahlungen von Videosendungen oder Magazinen auf Canal+ begannen 1986 mit zwei Programmen von 26 Minuten, die alle 14 Tage wechselten: "Vidéo Plaisir" und "Picnic TV". Jede Sendung war entweder einem Künstler, technologischen Neuheiten oder Themen, die das Fernsehen niemals zeigte, gewidmet. Die Gründung von "Avance sur image" im April 1988 ermöglichte die Produktion von 9 eigenen Geschichten, 15 Dokumentar/Reportagevideos, die Koproduktion von 9 Kurzprogrammen und die französische Erstsendung von 38 vollständigen Programmen, Alle Sendungen widmeten sich ganz Video und den neuen Technologien. Ihr Ziel war, einem breiten Publikum zu beweisen, daß diese Techno logien dem Experimen-tierstadi- um entwachsen waren Im Juni 1989 beschloß Canal+ die Einstellung der Sendung. Sie wurde ersetzt durch ereignis-orien- tierte Sendungen von ein bis zwei Stunden Länge. Dann verhalt die Abteilung für Kurz-pro- gramme im Dezember 1991 "Oeuil du Cyclone" ans Licht der Welt, einer 26 turbulente Minuten langen Magazinsendung, die allem Beweglichen auf der Spur ist, alle Formate, alle Themen, alle Stile akzeptiert, Man muß hinzufügen, daß diese Sendungen zum großen Teil erst mit Hilfe des Kultusministeriums, risikofreudiger unabhängiger Produzenten, wichtiger Institutionen und Nachbearbeitungsstudios möglich wurden. Arte und La Sept verfolgen eine gezieltere Politik und ermöglichen nur sporadisch die Produktion von Videos. Es gibt keine regelmäßigen Sendungen, sondern nur Auftragsarbeiten von Künstlern zu bestimmten Themen (Tanz, Theater, Literatur, etc.). Zu bemerken bleibt, daß einige der Beiträge in Magazinen wie "Avance sur image" von La Sept koproduziert wurden. In den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahren entwickelten sich neue künstlerische Talente, neue Produzenten traten hervor und die Hoffnung, einen kleinen Platz am großen Fenster zur Welt, dem Fernsehen, zu erobern, blühte auf. Heutzutage kann davon keine Rede mehr sein. Frankreich leidet wie viele andere Länder der Welt unter der wirtschaftlichen Rezession und der Jagd nach Einschaltquoten, an der sich alle Fernsehsender beteiligen. Mit der relativen Autonomie, von der die unabhängigen Produzenten eine Zeit lang profitierten, ist es aus. Die Fernsehsender haben sich wieder ihrer alten Liebe zugewandt, nämlich ihren eigenen Produktionen zu ihren eigenen Themen. Eine Frage des Mißtrauens, des Geldes, der Ent-täu- schung? So viele Fragen man sich auch stellen kann, führen sie doch immer wieder zu dieser Feststellung: Hat Video seinen Platz gefunden? Kann man noch so von Video sprechen, wie auf den spezialisierten Festivals? Oder befinden wir uns einfach am Vorabend großer Umstürze, Mentalitätsänderungen und völliger Transformierung des Status eines Videokünstlers? Wir befinden uns in einer Revolution, deren größter Teil bereits vorbei ist. Vielleicht ist es uns nur nicht bewußt. Das Fernsehen führt sich wie ein Fundamentalist auf, und die Künstler haben anscheinend Angst, sich von einer beruhigenden Vergangen-heit zu verabschieden. Vielleicht wird das Fernsehen gar nicht zum Dreh- und Angelpunkt des dritten Jahrtausends? Das Spiel ist also noch offen - aber kreative Regeln können nur ersonnen werden, wenn die Katze lernt, der kleinen Maus zu vertrauen.

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