Andere Geometrien

Essay
31.10.2019

Andere Geometrien

Wie wirken Geometrien auf uns? Welche geometrischen Formen können dabei helfen, souveräne Infrastrukturen zu überwinden und kollektiv zu handeln? Femke Snelting bespricht diese Fragen im Zusammenhang ihrer Erfahrung als Ko-Moderatorin des Study Circles Affective Infrastructures bei der transmediale 2019. Ausgehend von den vielfältigen Wirklichkeiten, Hintergründen, Generationen, Herkünften und Zeitzonen der Teilnehmenden stellt sie Versprechen von Zirkularität infrage und betont das Drängen auf Geometrien des nicht-romantischen Zusammenseins und der kontinuierlichen Veränderung. Snelting betont, dass neue Topologien nur auf der Grundlage kollektiven Begehrens und Handelns entstehen können, wenn verschiedene Beschränkungen, Unsicherheiten und Möglichkeiten berücksichtigt werden.

 

„Ich möchte in diesem Gespräch eine Möglichkeit finden, nicht weiterhin um Gefühle der Machtlosigkeit und der verkümmerten Empörung zu kreisen; wir brauchen ‚affektive Infrastrukturen‘, die uns helfen, anders zu fühlen, damit wir unerwartet handeln können – damit wir überhaupt handeln können.“ Mit diesem Aufruf eröffnete Lou Cornum den archipelischen Austausch, der ebenfalls in diesem Journal veröffentlicht wurde.1 Lou lud den Study Circle dazu ein, die dynamischen Spannungen zwischen „Affekt“ und „Infrastruktur“ zu erkunden, um einen Ausweg aus dem lähmenden Gefühl zu finden, sich „im Kreis zu drehen“.

Ein Kreis ist eine einfache geometrische Form. Der Begriff „Kreis“ kann sich auf den Umriss einer Figur oder eine runde Form einschließlich ihres Inneren beziehen. Kreise werden mathematisch als die Menge aller Punkte einer Fläche definiert, die den gleichen Abstand zu einem gemeinsamen Zentrum haben; dessen Rand oder Kreisumfang bildet sich aus dem Nachziehen der Kurve eines Punktes, der sich in einem konstanten Radius um die Mitte bewegt.

Kreise sind in den Praktiken und Vorstellungswelten der Kollektivität allgegenwärtig. Doch ihr Nutzen für das Denken und die Bewegung mit jener Art der „hoffnungvollen Ambivalenz“2, denen sich der Study Circle verpflichtete, ist begrenzt. Die Flachheit des Kreises bietet kaum Vokabular für komplexere Beziehungskonzepte, die versuchen, Raum, Materie und Zeit einzubeziehen, ganz zu schweigen von speziesübergreifenden Begegnungen und anderen schwierigen Bündnissen. Die Auflage, immer im gleichen Abstand vom Zentrum zu bleiben, verspricht eine Situation der Gleichheit; dies beruht jedoch auf einer Verschmelzung von Gleichheit und Ähnlichkeit. Kreise zerteilen Raum in ein Inneres und ein Äußeres. Sie stellen eine binäre Trennung her, die niemals einfach überwunden werden kann. Wir brauchen dringend andere Achsen, entlang derer wir uns bewegen können.

Dem Study Circle wurde der Weg durch ein Zitat von Lauren Berlant bereitet, in dem sie das kombinierte Konzept der „affektiven Infrastrukturen“ als Möglichkeit einführt, darüber nachzudenken, was uns in beunruhigenden Zeiten zusammenschweißen könnte. In ihrem Text nimmt sich Berlant des komplexen Projektes an, ein Gemeingut jenseits der objektiven Äquivalenz von „Ähnlichkeit“ zu denken. Sie schlägt vor, belastbare Strukturen zu verwirklichen, die durch eine „nicht-souveräne Relationalität als grundlegender Beschaffenheit des gemeinsamen Seins“ funktionieren können. Berlant fordert uns somit dazu auf, in anderen Geometrien der Beziehung zu denken.

Der Study Circle Affective Infrastructures hat jenseits seines Namens nie einen Kreis gebildet oder vollzogen. Seine komplexe Form wurde sorgfältig zusammengestellt: Eingeladen wurden acht geografisch verstreute Menschen, die – unterschiedlich gern – verschiedene Sprachen sprechen und schreiben. Unsere vielfältigen geschlechtlichen Wirklichkeiten, geopolitischen Situationen, disziplinären Hintergründe, praktischen Erfahrungen und sogar Altersunterschiede bedeuteten, dass wir in Hinsicht auf „Affekt“ und „Infrastruktur“ jeweils spezifische Fragen mitbrachten.

Auch die überlappenden Anwesenheiten, Anliegen und Werkzeuge durchkreuzten die Kreisförmigkeit des Study Circles. Wenige Monate vor dem transmediale-Festival und am Tag nach den Wahlen in Brasilien trafen sich einige von uns persönlich in Berlin, während andere online fernverbunden blieben. Während Benzinkanister auf Migrant*innen geworfen wurden, die versuchten, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überwinden, versuchten wir, die Folgen der Wahl Jair Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten für uns selbst und für unsere Verbündeten zu verstehen. Wir demonstrierten gegen die politische Trägheit angesichts des Klimawandels und kämpften gegen institutionelle und vergeschlechtlichte Gewalt. Wir kommunizierten über verschiedene Zeitzonen hinweg, zwischen drei Kontinenten, mithilfe von einem Mailverteiler, privaten Nachrichten, Videokonferenz-Werkzeugen und vielen gemeinsam online bearbeiteten Notepads. Wir erlebten unregelmäßige Schlafrhythmen, Erschöpfung und persönliche Besorgnis; es gab Netzwerkprobleme und gescheiterte Verbindungen. Hinzu kamen Missverständnisse, überraschende Entdeckungen sowie ziemlich viele lustige Witze. Derweil liefen Visa ab und Familienmitglieder, Deadlines und Hunde bedurften ebenfalls unserer Aufmerksamkeit.

Inmitten unserer verstreuten Verbindungen entstanden nun andere Geometrien des Zusammenseins. Einige waren ausdrückliche, wohlbekannte Strukturen und andere trieben langsamer und unklarer an die Oberfläche. Betrachten wir kurz die Möglichkeiten verteilter Netzwerke . Deren ikonische Repräsentation zeigt sie als den abschließenden Schritt in einer Evolution, die sich sauber entlang der zunehmenden Autonomie und Belastbarkeit einzelner Knoten ordnet. Verteilte Netzwerke sind ein Produkt der technischen Planung des Kalten Krieges. Das grafische Argument lautet, dass sie weiter funktionieren, auch wenn ein Teil der Knoten bei einem Angriff zerstört wird. Verteilte Netzwerke beruhen auf souveränen Instanzen, die Belastung ausgleichen und Macht über andere ausüben. Die defensive Zeichnung erzählt uns nicht viel über die Möglichkeiten nicht-souveräner Relationalität; die Art infrastruktureller Darstellungen, mit denen wir interagieren wollen, müssen weniger eindimensional und überschematisch sein. Unsere verwobene Bibliografie orientiert sich an queerer, postkolonialer und feministischer Theorie, aber auch an Literatur. Die Windungen und Spannungen in den von uns erprobten Formulierungen werden von Arbeiten begleitet, die ausdrücklich Kritik an den Regimen des Normativen, des Lesbaren und des Regulären üben.

Was geschieht zwischen den Knoten und Kanten? Zach Blas lädt dazu ein, unsere Aufmerksamkeit auf den Negativraum von Netzwerken zu lenken statt weiterhin die zentralisierende Kraft der Verbindungspunkte in den Fokus zu nehmen. Blas bezieht sich auf Ulises Mejias, wenn er diesen Raum „paranodal“ [(d.h. neben den Knoten)] nennt und einen Paradigmenwechsel einberuft, der jenes denkbar macht, „das nicht nur außerhalb des Netzwerks liegt, sondern auch jenseits der Form des Netzes selbst“.3 Seine Vorstellung von den Räumen jenseits der Knoten erinnert an Nepantla, den Ort der Widerständigkeit, den Gloria Anzaldúa in Borderlands/La Frontera: The New Mestiza aufkommen lässt. „Nepantlas sind Orte der fortwährenden Spannung, wo die fehlenden oder abwesenden Teile zurückgeholt werden können, wo Veränderung und Heilung möglich sein könnten, wo Ganzheit nur außer Reichweite liegt, aber erlangbar erscheint.“4

Wie können wir unsere Erfahrung der verkümmerten Empörung aus dem Einschluss in universalistisch-totalitären Apparaten herauslösen, die von den dominanten fünf multinationalen US-amerikanischen Tech-Unternehmen (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) angeboten werden? Deren homogenisierender technikpolitischer Rahmen bringt die dunkle Angleichung zwischen Moderne, Heteropatriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus wieder an die Oberfläche. Ihr fortwährendes Versprechen der Gleichheit-durch-Veränderlichkeit, des optimierten Affekts und der monetarisierten Beziehungen machen es immer schwieriger, Undurchsichtigkeit, Bedingtheit, Uneindeutigkeit und schmutzige Zukünfte jenseits wieder neuer Möglichkeiten der Machtausübung über andere zu denken (sei es in der Form von Eigentum, Elternschaft, Gesetz, Spezies, Geschlecht oder Staat). Wir müssen dringend unsere infrastrukturellen Begehren an anderen Ausrichtungen orientieren.

An dieser Stelle kommt der Pilz ins Gespräch – als eine Möglichkeit, uneinheitliches Zusammenarbeiten unter prekären Bedingungen zu konzipieren. Schimmel und Myzelien sind mehr als rhizomatisch. Sie scheinen sich wirkungsvoll mit giftiger Erde, beschädigten Bäumen und verschmutzter Luft zu vermischen, als ob sie ehrgeizige Angestellte bei einer Feierabend-Cocktailparty wären. Kontaminierung ist definitiv Teil der Gleichung für eine Pilzinfrastruktur. Diese hypertextuellen Naturkulturen erinnern uns auch an die Tatsache, dass die Vermischung von Schichtungen eine gewaltvolle und nicht unbedingt freiwillige Angelegenheit sein kann. Mit Anna Lowenhaupt Tsing fragen wir uns, wie solche unordentlichen Geometrien mit Extraktion betraut sein können, ohne in die bloße Berechnung zurückzufallen. Es ist sonderbar, wie schwierig es ist, solche nicht-romantischen Formen des Zusammenseins nachzuvollziehen.5

Wir springen vom umschichtenden Schlamm der Pilze zu den verlockenden Versprechen hyperbolischer Geometrie durch die geräumigen Falten der Tragetasche, von innen nach außen und wieder zurück. „Ein Blatt eine Kalebasse eine Muschel ein Netz eine Tasche eine Schlinge ein Sack eine Flasche ein Topf eine Schachtel ein Gefäß. Ein Behältnis. Etwas Empfangendes.“6 Ursula K. Le Guin zieht verschiedene Bilder von Hüllen heran und fordert uns dazu auf, Strukturen in Betracht zu ziehen, die Instanzen jenseits der Gleichheit zusammenhalten können. Ihre porösen Behältnisse erinnern an Berlants Aufruf zur nicht-souveränen Relationalität und lassen eine diffraktive Topologie miteinander verbundener Oberflächen aufscheinen. Könnte die zugreifende Dimensionalität affektiver Infrastrukturen die gleichzeitige Behauptung solider Ebenen in Wallung versetzen?7

Und dann gibt es noch die Gezeiten-Vorstellung des Archipels. Mit Édouard Glissant denken wir über Beziehungsnetze in einem Zustand der permanenten Transformation nach. Unsere affektiv-infrastrukturellen Vorstellungen werden von der unvorhersehbaren Verbindung veränderlicher Strömungen bewegt, von einer heißen Brise und der sich verändernden Landschaft vieler Inseln. Sie beugen sich gemeinsam einer grenzenlosen Métissage8; vielleicht handelt es sich hier nicht um eine andere Geometrie, sondern gleich um eine andere Welt? „Archipel-Denken passt gut zu den Gewohnheiten unserer Welt. Es nimmt die Uneindeutigkeit, die Zerbrechlichkeit, die Zerstreutheit [derivé] an. Es ist im Einklang mit der Praxis des Umwegs, die nicht mit der Flucht oder der Resignation gleichzusetzen ist.“9

Unsere andauernde Erfahrung, verschiedene Maßstäbe und Intensitäten miteinander zu verknüpfen, ohne zu versuchen, sie ineinander fallen zu lassen, machte zunehmend deutlich, dass wir das Wie und das Was des Study Circles verbinden mussten, um der Herausforderung gewachsen zu sein, „Affekt“ und „Infrastruktur“ zusammenzudenken. Zerstreuung, Unsicherheit, Prekarität, Hemmung, Instabilität, Differenz … Wie kann durch und in den Beschränkungen des nicht-kreisförmigen Zusammenseins gedacht werden?

Als der Study Circle seine Überlegungen bei einer öffentlichen Diskussion vorstellte, wurden wir gefragt, ob wir irgendwelche Ideen hätten, wie die dynamischen Spannungen zwischen „Affekt“ und „Infrastruktur“ in tatsächliche Werkzeuge und Software umgesetzt werden könnten. Wir antworteten zögerlich; nicht, weil wir die Wichtigkeit der Konkretisierung verneinen wollten, sondern weil wir für eine Vorstellung von Zusammensein in Differenz erst unsere Bezugsrahmen verändern müssen, hin zu solchen, die nicht von gänzlich abwesender Exzentrik abhängig sind. Diese Verschiebung von Geometrien ist ein notwendiger Schritt, um technologische Darstellungen von nicht-utopischen Modellen zu entwickeln, die über die verfestigenden Annahmen von Gleichheit und Gegenseitigkeit hinausgehen. Wenn affektive Infrastrukturen uns die Mittel geben können, überhaupt zu handeln, dann werden sie zugleich komplex und konkret sein müssen oder sie werden nicht sein.10

Übersetzung aus dem Englischen von Jen Theodor.
Lektorat von Tabea Hamperl.

  • 1. Lou Cornum, in: „Affective Infrastructures: A Tableau, Altar, Scene, Diorama, or Archipelago“, in transmediale journal (2018).
  • 2. Lauren Berlant, „The commons: Infrastructures for Troubling Times“, in Environment and Planning D: Society and Space 34/3 (2016): 393-419.
  • 3. Zach Blas, „Contra-Internet“, in e-flux Journal #74 (Juni 2016).
  • 4. „Nepantlas are places of constant tension, where the missing or absent pieces can be summoned back, where transformation and healing may be possible, where wholeness is just out of reach but seems attainable.“ Gloria Anzaldúa, „Light in the Dark/Luz en lo Oscuro: Rewriting Identity, Spirituality, Reality“ (Durham: Duke University Press, 2015).
  • 5. Anna Lowenhaupt Tsing, The Mushroom at the End of the World On the Possibility of Life in Capitalist Ruins (Princeton University Press, 2017)
  • 6. Ursula K. Le Guin, „The Carrier-Bag Theory of Fiction“ (1988)
  • 7. „Das Einrollen ermöglicht das Ausrollen; die Bewegung des Lebens zeichnet eine Gestalt nach, die einem hyperbolischen Raum gleicht, geriffelt wie die Falten eines gekräuselten Salatblatts, eines Korallenriffs oder wie ein Ausschnitt aus einem Häkelmuster.“ Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2018: 87
  • 8. A.d.Ü. Métissage bezieht sich im Französischen auf die kolonial bedingte Zusammenkunft und Nachkommenschaft vieler verschieden rassifizierter Menschen – u.a. im gedanklichen Bezugskontext Glissants: den Archipelen der französischsprachigen Karibik.
  • 9. Édouard Glissant, Poétique de la Relation (Gallimard, 1990) / Poetics of relation (MIT press, 1997)
  • 10. Jara Rocha (persönliches Gespräch, 2019)

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